Fünf Songs für fünf Feierabende - Woche:48
Von nebligem Toronto-Dream-Folk über Thüringer Klaviermodule, südafrikanisch-brasilianische Exil-Brücken und türkische Drei-Generationen-Sessions bis zu Radioheads funkigem Seitensprung.
Jeder Feierabend ist einzigartig. Dies ist mein Versuch, mit handverlesener Musik dieses Spektrum durch musikalische Hinter- oder Vordergrundbeschallung zu supporten. Von entspannt bis aktiv, von nostalgisch bis weltoffen. Jenseits von algorithmischem Einheitsbrei und 0815-Radiogedudel.
Du hast nie gelernt, richtig Pause zu machen!
Montagmorgen und du denkst schon jetzt an deine Mittagspause? Halte ich für eine gute Idee, aber nicht, weshalb du so denkst:
Ich halte es für eine gute Idee, mal ganz grundsätzlich über unsere Pausen nachzudenken! Unser Körper und Geist brauchen sie, sie sind nicht ohne Grund gesetzlich vorgeschrieben. Und dennoch haben wir eine ziemlich –nennen wir es – unvorteilhafte Pausenkultur etabliert.
Das ist mir aber auch erst aufgefallen, nachdem ich zufällig auf das Thema gestoßen bin und mir aufgefallen ist, auf wie viele Arten ich meine Pausen schon an die Wand gefahren habe. Dabei haben sie oft den Stress erhöht, den Overload gesteigert und die Produktivität gesenkt. Und das nur, weil ich dachte: Pause machen bedeutet einfach nur mal kurz nicht zu arbeiten.
Aber Achtung: kleine Planänderung
Meine Recherche ist dabei mal wieder ausgeartet. Meine Finger wollten nicht aufhören, das Thema ist einfach zu spannend. Und weil ich ohnehin das Gefühl hatte, dass es manchmal inhaltlich schwierig ist, Musik und Inhalte so zu kombinieren, dass es nicht zu lang und unübersichtlich wird, werde ich den Newsletter jetzt in Teile aufbrechen.
Jeder Montag weiterhin im Zeichen der Musik: 5 Tracks pro Woche für mögliche Varianten deines Feierabends. So wie heute, so wie genau jetzt. Gedacht als Support für den Übergang von der Arbeit zum „Was auch immer danach kommen mag“, für ruhige Momente des Innehaltens, für musikalische Erlebnisreisen um die Welt und durch die Zeit, sowie für Flow-Momente.
Thematische Deep Dives dann im zweiten Part, der im Laufe der Woche kommt. Ich werde ein wenig ausprobieren, welche Möglichkeiten Substack bietet und was für dich und mich am besten funktioniert, ohne uns zu überlasten. Manchmal werden die Texte dann länger, manchmal kürzer. Es ist auch ein Weg, mir hier ein wenig selbst aufgebauten Druck und Stress aus dem Segel zu nehmen. Wenn mal eine Woche kein Deep Dive kommt, dann, weil ich vielleicht einfach keinen Bullshit mit dir teilen will! 🙃
Falls du Gedanken dazu hast oder Wünsche, melde dich bitte gern bei mir! Du hast meine Mail!
Bis dahin, betrachte doch schon mal, wie du eigentlich Pause machst: wie oft, wie lange und was du dabei so tust. Fühlst du dich danach wirklich erholt und aufgeladen für den Rest des Arbeitstages? Ich bin sehr gespannt darauf, was dir dabei so auffällt.
Eines steht für mich fest: Wer einen guten Feierabend haben möchte, kommt um eine gesunde Pausenkultur nicht herum!
Für den Übergang | Different Styles of Smoothness
Alyson McNamara – “After Hours”
Es gibt diese Songs, die genau wissen, wo du gerade stehst. “After Hours” ist so einer.
Die Singer-Songwriterin Alyson McNamara aus Toronto hat diesen Track über zehn Jahre lang mit sich herumgetragen, bis er 2021 endlich auf ihr drittes Album kam. Die Geschichte dahinter: Late-Night-Partys, oberflächliche Begegnungen, die erste Herzschmerz-Phase – alles verpackt in diesem nebligen Dream-Folk-Sound, der irgendwo zwischen Neil Young und Feist schwebt.
Und während dieser Song so vor sich hin groovt, muss ich an meine eigenen durchzechten Nächte und After-Hour-Raves denken: Rückblickend betrachtet schon nicht verkehrt. Aber ich bin auch froh, dass sich mein Fokus auf andere Dinge verschoben hat, die ihre Spuren nicht noch ein paar Tage in die Woche hineinziehen.
Auf ihrer Bandcamp-Seite steht übrigens Folgendes über Alyson:
“Alyson is two people: she is you, with a broken heart, and she is also a snail floating on a leaf that’s just realizing how to track the stars. She lives inside the word ‘maybe’ and breathes possibility at both ends. And what’s wrong with maybe?”
Ist das nicht wundervoll?
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Hör das, wenn: du zwischen Arbeit und Feierabend eine kurze Pufferzone benötigst, um deine Gedanken zu ordnen, den Stress abzuschütteln und dich neu zu sortieren.
Für das Innehalten | Deep Listening & Meditation
Martin Kohlstedt – “OMBLEH”
Stell dir vor, du nimmst zwei Songs – einen vom Ende eines Albums, einen vom Anfang eines anderen – und lässt “alle Grenzen fallen”. Genau das hat Martin Kohlstedt 2017 gemacht.
OMBLEH ist keine normale Komposition. Es ist eine Transmutation – Kohlstedt verschmolz “OMB” (sein 2012er Album Tag) mit “LEH” (vom 2014er Nacht) zu einem neuen Werk, das beides ist und gleichzeitig etwas völlig Eigenes. Der Thüringer Komponist nennt es “modulare Musik”: Stücke wie Wörter behandeln, die in verschiedenen Kontexten verschiedene Bedeutungen annehmen. Hierzu sein TEDx-Talk aus dem Jahr 2017.
Mir ist Martin Kohlstedt zunächst über seine elektronischen Elemente aufgefallen. Doch diese ruhigen Piano-Stücke funktionieren für mich , im kalten, dunklen Hamburger Herbst, wesentlich besser.
Übrigens: Kohlstedt kauft mit seinen Einnahmen Brachland in Südthüringen, um Klimawälder zu pflanzen. Über 4.600 Bäume bisher. Ein weiterer Grund seine Musik zu hören und seine Arbeit zu unterstützen.
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Hör das, wenn: der wusselige Tag noch in den Knochen steckt und du gerade einfach nur ein ruhiges Piano brauchst, dem du dein Inneres anvertrauen möchtest.
Für eine Zeitreise | Vintage Vibes
Miriam Makeba – “Chove-Chuva”
Wenn eine südafrikanische Exilantin 1964 in New York einen brasilianischen Samba aufnimmt, arrangiert von ihrem südafrikanischen Ehemann, mit Jazz-Größen wie Kenny Burrell – dann ist das mehr als ein Cover. Das ist eine kulturelle Brücke über den Atlantik.
“Chove-Chuva” bedeutet wörtlich “Regen, Regen”. Jorge Ben schrieb das Original 1963 in Brasilien – eine polyvalente Metapher, die gleichzeitig romantische Melancholie und politischen Protest transportiert. Bei Makeba, die gerade ihre Staatsbürgerschaft verloren hatte und 30 Jahre im Exil leben sollte, bekommt der Song eine zusätzliche Schicht: Der unaufhörliche Regen wird zur Apartheid, die “göttliche Liebe” zur Hoffnung auf Heimkehr.
Hugh Masekelas Arrangements verbinden brasilianischen Samba-Rhythmus mit Big-Band-Bläsern und Makebas Stimme. Das Ergebnis: weniger tanzbar als das Original, dafür spirituell-meditativ.
Diese Version aus dem Jahr 1965 ist dabei praktisch nicht gealtert, sondern präsentiert, Note für Note, ihre zeitlose Schönheit, die mich jedes Mal ins Träumen bringt.
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Hör das, wenn: du neben der Herbstmelancholie ein paar Sonnenstrahlen zwischen all dem Regen erspähen möchtest, auch wenn sie nur aus dir selber kommen.
Für den Horizont | Allerweltsmusik
islandman feat. Okay Temiz & Muhlis Berberoğlu – “AŞIK ATIŞMASI”
Drei Generationen türkischer Musiker, ein Studio in den Niederlanden, 62 Minuten live auf Vinyl geschnitten – kein Overdub, keine digitale Nachbearbeitung, kein Sicherheitsnetz.
“Aşık atışması” bezeichnet im Türkischen eine jahrhundertealte Tradition improvisierter Poesie-Duelle – zwei Troubadoure werfen sich Verse zu. Dieser Track macht das instrumental: Die Bağlama von Muhlis Berberoğlu “wirft”, die Perkussion von Okay Temiz (85 Jahre, mit selbstgebauten Instrumenten aus Badezimmer-Rohren) “antwortet”, und islandman moderiert mit balearischen Beats.
Das Ergebnis klingt gleichzeitig archaisch und futuristisch. Dieser zart gewobene Soundteppich lässt sich alle Zeit der Welt: 10 Minuten, das Intro teleportiert direkt in die Türkei. Der dann langsam einsetzende Groove kann sich sehen lassen. Okay Temiz brachte eine Tasche voller handgefertigter Instrumente mit – elektrifizierte Flöten, Shaker mit Wah-Wah-Pedal, handgeschlagene Kupfertrommeln – und bewegte sie live um die Mikrofone. Eine wunderbare Reise. So, und jetzt du KI-Soundsmaschine!
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Hör das, wenn: du merkst, dass deine Spotify-Bubble zu klein geworden ist und du Lust hast, dich überraschen zu lassen – von Klängen, die du nicht einordnen kannst, aber die trotzdem was mit dir machen.
Für den Flow | Global Groove
The Smile – “The Smoke”
Manchmal braucht es eine Pandemie, damit Radiohead-Legenden endlich mal die Handbremse lösen.
“The Smoke” entstand, als Jonny Greenwood frustriert war vom langsamen Arbeitstempo Radioheads und anfing, Riffs zu sammeln. Er holte Thom Yorke und den Jazz-Drummer Tom Skinner dazu – und plötzlich passierte, was bei Radiohead seit Jahren nicht mehr passiert ist: Funk. Echter, unverblümter Funk mit Fela Kuti-Vibes.
Pitchfork nannte es “the sexiest thing Yorke’s ever set to tape”. Die wabernde Bassline, , die aufsteigenden Blechbläser (u.a. Theon Cross von Sons of Kemet) – das ist Yorke, der sich erlaubt, sinnlich zu sein. Rate Your Music beschreibt es als “funky as hell – but in that very ‘Thom Yorke way’ where the funk sounds like it’s been filtered through a CCTV feed and a dystopian air purifier.”
Lyrisch geht’s um Selbstverbrennung als Metapher für revolutionäres Erwachen – Protest-Hymne mit hoffnungsvollem Unterton. Aber ehrlich? Du kannst den Track auch einfach grooven lassen, ohne die Metaphern zu analysieren.
So funktioniert er für mich: Kopfhörer auf, Track an und mich durch die Großstadt schlängeln. Dabei die Menschen und das Leben um mich herum beobachten, aber nicht auf diese creepy-art-und-weise, und mir überlegen, was ich noch mit diesem wundervollen Feierabend so anstellen kann.
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Hör das, wenn: du noch einmal in Schwung kommen möchtest, ohne dabei in Stress zu verfallen. Oder aber, wenn du einfach mal wieder Kopfnicken willst, ohne dabei Hip Hop anmachen zu wollen. (PS: Nichts gegen Hip Hop! ;) )
Danke für die Aufmerksamkeit!
Es würde mich freuen, wenn der ein oder andere Song dir ein paar Minuten wohlverdiente Auszeit ermöglicht und dich bei deinem Feierabend, wie immer er auch aussehen mag, unterstützt. Falls ein Song besonders gut passt, bin ich gespannt darauf zu hören, in welchem Moment, in welcher Stimmung er dich gefangen hat.
Und wenn dir gefällt, was du liest und hörst, freue ich mich darüber, wenn du TAoMF abonnierst und mit einer Weiterempfehlung honorierst.
In diesem Sinne: Schönen Feierabend.
Claas


