Feierabend: eine geografische Vermessung
Über die schleichende Privatisierung und Verödung unserer Begegnungsräume – und warum das mehr als nur ein städteplanerisches Problem ist.
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Auch wenn ich mich weigere es wahrzuhaben: Mein schmales Budget während meiner Umschulung beeinflusst meinen Feierabend. Es muss eine Auswahl getroffen werden: Welches Konzert verspricht das Beste zu werden, Restaurant oder doch lieber Kochen? Kneipenbier für 5,80: heute eher nicht. Was nach normalen alltäglichen Entscheidungen klingt, hat aber durchaus gesellschaftliche Tragweite. Wo wir unseren Feierabend verbringen können, hat Einfluss auf unsere Gesellschaft. Im Guten wie im Schlechten.
Eine Spurensuche nach den Orten unseres Feierabends.
Eisbrecher
Fragen, die man selten stellt, deren Antworten aber spannend, witzig oder tief blicken lassen. Sie öffnen Türen zu Seiten, die du an anderen bisher nicht kennst. Beantworte sie erst selbst, dann stell sie deinen Lieblingsmenschen.
Wenn Feierabend ein Ort wäre,
wo wäre er für dich und was zeichnet ihn aus?
Zwischen Couch und Kneipe: Die Geografie unseres Feierabends
Auf der Couch, in der Badewanne, im Garten oder im Hobbykeller? Oder in der Bar, im Theater oder im Restaurant? Die Möglichkeiten zur örtlichen Bestimmung scheinen schier unendlich. Um Ordnung hineinzubringen, lass uns das Ganze kategorisieren. Hilfreich dabei ist die grundlegende Einteilung des amerikanischen Soziologen und Stadtplaners Ray Oldenburg, die er Ende der 80er vorgenommen hat: Neben dem Zuhause (First Place) und der Arbeit (Second Place) benennt er als „Third Place“ all jene Orte des sozialen Umfelds, die zum Entspannen, Interagieren und zum Aufbau von Gemeinschaft einladen. Diese Third Places teile ich in weitere Unterkategorien ein:
Öffentlicher Raum: Natur, Parks, Spielplätze, Märkte.
Kommerziell: Theater, Bars, Kino, Restaurants.
Gemeinschaftlich: Sportvereine, Kulturvereine, Kirchen, Seniorentreffs, Jugendzentren.
Digitaler Raum: Mischung aus öffentlich und kommerziell. Foren, Games, Streams, Chatgruppen.
Stetig steigende Preise, klamme öffentliche Kassen und die zunehmende Digitalisierung unserer Welt wirken sich kontinuierlich auf die Möglichkeiten unserer Feierabende aus. Leere Geldbörsen machen eine Entscheidung zwischen der Befriedigung von Grundbedürfnissen und Freizeitaktivitäten leicht. Kostenlose Aktivitäten werden spärlicher. Die Nutzung digitaler Angebote, bei denen im Zweifel „nur“ mit den eigenen Daten gezahlt werden muss, wird attraktiver.
Dabei stellen jene Third Places gesellschaftlich wichtige Knotenpunkte dar, die das individuelle Wohlbefinden fördern, Isolation und Einsamkeit mindern und das Gemeinschaftsgefühl stärken.
Wo wir also unseren Feierabend verbringen, hat also durchaus eine gesellschaftspolitische Dimension mit hoher Tragweite.
Kulturhistorischer Exkurs
Je nach Region unterscheiden sich Art und Anzahl all jener Orte. So zeichnen ländliche Regionen schon „von Natur aus“ andere auf, als in urbanen Zentren. Zudem unterscheidet sich die Nutzung jener Orte aber durchaus auch kulturell. Man könnte meinen, dass viele öffentliche Orte in Deutschland sich durch eine gewisse Strukturiertheit und Ordnung wahrnehmen lassen, während im Mittelmeerraum sich das Leben sehr viel mehr auf den Straßen abspielt. In skandinavischen Ländern wird hingegen der Natur ein höherer Stellenwert in der Freizeit zugeordnet. Ohne damit unterstellen zu wollen, dass wir hierzulande per se Stubenhocker seien, aber eine gewisse Tendenz ist schon erkennbar.
Orte, wie sie sein sollten & die ökonomische Logik des Ausschlusses
Ray Oldenburg charakterisiert Third Places wie folgt: Sie sind
Offen und einladend: Du brauchst keine Einladung oder einen Termin.
Gemütlich, ungezwungen, und man fühlt sich dort wohl.
Praktisch: Sie sind in der direkten Nachbarschaft.
Unprätentiös: Alle sind gleichberechtigt, es ist nicht teuer oder gar abgehoben.
Es gibt Stammgäste, oft gar eine Art von GastgeberIn.
Gespräche sind die Hauptaktivität: Diskussionen, Debatten, aber auch Klatsch gehören dazu.
Es wird viel gelacht, die Stimmung ist unbeschwert und ausgelassen.
Das Blöde ist allerdings, dass eben diese Orte, besonders in urbanen Räumen, kostenlose oder zumindest unkommerzielle Angebote seit den 80er Jahren immer unattraktiver und seltener werden. Stadtplanung, so scheint es, war lange Zeit primär von wirtschaftlichen und nicht gesellschaftlichen Interessen geleitet. Renditelogik obsiegt dem Gemeinwohl. Konsum ist messbar. Verkehr notwendig. Wohlbefinden zahlt keine Steuern. Zumindest ist die Rendite nicht so ersichtlich. Öffentliche Orte des Verweilens wurden sogar bewusst ungemütlich gestaltet. Konsumenten, Touristen und gut betuchte Zugezogene in, unter Gentrifizierung leidenden Vierteln, könnten sich von rumlungernden Senioren, Obdachlosen, Junkies und Jugendlichen gestört fühlen. Hostile Architecture ist feindselig, abweisend, ausladend und die fieseste Ausprägung von Raumgestaltung und Möbeldesign der letzten Jahre. Aber für die Pflege und Instandhaltung einladender, gutmütiger Flächen gäbe es ohnehin kaum Geld.
Stattdessen durfte lange Zeit der freie Markt regeln, was dazu führte, dass mehr und mehr die Kaufkraft zur Zugangsberechtigung der Wahl ist und Gentrifizierung anhaltende pandemische Verdrängungsmechanismen ausgelöst hat.
Gesellschaft braucht Räume.
Ihrer selbst und der Demokratie wegen. Third Places wie oben beschrieben sind kein nice-to-have’s. Gesellschaftlicher Kitt entsteht nicht im Privaten. Viel geforderte Integration von Zugezogenen kann bei der Arbeit gelingen. Aber umso wichtiger ist sie zum Feierabend. Wie sollen wir uns als eine Gesellschaft begreifen, wenn wir sie immer weniger wirklich wahrnehmen und erleben? Zusammenhalt entsteht nicht durch das Umkreisen einer Region mit einer Landesgrenze, sondern durch gemeinsames Leben, Lachen, Lieben. Beim Kicken, im Ehrenamt oder im Chor. Je weniger attraktiv der öffentliche Raum und je weniger Möglichkeiten die Portokasse, desto mehr ziehen wir uns ins Private und ins Digitale zurück. Dort fällt uns selbst kaum noch auf, wie sehr sich die Filterblase um uns herum schließt, wie sehr Algorithmen unseren Horizont schmälern, anstatt ihn zu erweitern.
Ja, unsere Gesellschaft ist zunehmend polarisiert. Sie polarisiert sich selbst. Die Gründe dafür sind mannigfaltig, vielschichtig und kompliziert. Ein Weg, dieser Tatsache entgegenzutreten, dürfte aber das Miteinander- und nicht Übereinander-Reden sein. Von Angesicht zu Angesicht. An zwanglosen Orten des Wohlfühlens, der spontanen Begegnungen.
Wo es klappt: Lichtblicke und Hoffnungsträger
Natürlich gibt es sie noch. Kostenlose oder zumindest günstige Orte, an denen die Gesellschaft lebt und gemeinsam Feierabend macht. Ob in Vereinen, Initiativen, kirchlichen oder kulturellen Gemeinschaften. Oder auf den Plätzen und in den Parks der Städte, auch wenn man sie sich zuweilen mit, billig schmeckendem, aber nicht günstigem Dosenbier attraktiv trinken muss. Oder aber in den kleinen Oasen der Subkultur, die sich nur halten können, weil sie, aus kapitalistischer Sicht, auf Selbstausbeutung der dort Aktiven beruhen. Weil sie sich bewusst einer gewinnorientierten Logik entziehen oder sie zumindest nicht Hauptantriebsfeder ist.
Diese Orte entstehen und existieren, weil es einen Bedarf danach gibt. Leider haben wir als Gesellschaft bislang es nicht so recht hinbekommen, diesen gesellschaftlichen Nutzen wertzuschätzen und zu fördern. Im Gegenteil: Viele Orte mussten mit viel Mühe erstritten und erkämpft werden.
Hier in Hamburg, aber auch in anderen Städten fällt zudem eines auf: In ehemaligen Ladenflächen, wo einst der, längst durch große Handelsketten vertriebene, Einzelhandel kleine, persönliche Orte des Aufeinandertreffens beherbergte, haben sich vielerlei türkische, serbische, kroatische etc. Kulturvereine etabliert.
Ja, nach außen wirken sie oft eher separierend, verschlossen, sich abgrenzend. Aber wer hat dort schon mal angeklopft und Hallo! gesagt? Sie schließen eine kulturelle Bedürfnislücke. Dem Bedürfnis nach Orten des Zusammenseins. Oft generationenübergreifend.
Wenn Innenstädte zu Geisterstädten werden
Nachdem es dem kleinen Einzelhandel an den Kragen ging, setzt der Online-Handel mittlerweile bekanntlich auch den großen Ketten zu. Die als Epizentrum des Konsum konzipierten Innenstädte sind geprägt von ständigem Wechsel der Pächter. Einstige Größen wie Karstadt, Galleria und Co. suchen ratlos nach Konzepten, wieder profitabel zu werden. Aber ob gut laufend oder leer stehend: Nach Ladenschluss gleichen die meisten Innenstädte einer ausgestorbenen Westernstadt. Anstatt umherwehendes Tumbleweed sind es die sich viel zu langsam zersetzenden Plastiktüten längst vergangener Zeiten, die durch die menschenleeren Beton- und Glasschluchten wehen.
Von der Tristesse zur Chance
Und in eben dieser Tristesse steckt eine große Chance: Leerstand bietet Räume für kreative Zwischennutzung. In Hamburg füllt das Jupiter den alten Karstadt-Sport auf 5 Etagen mit kreativem Leben. Erste Konzepte und Diskussionen zur Umwandlung in Wohnraum in Zeiten von Wohnungsnot erscheinen logisch. Vielleicht lohnt es sich auch, darüber nachzudenken, inwiefern wir als Gesellschaft neue Orte fördern können und wollen, die als Ziel die Stärkung des Gemeinwohls haben und nicht einer Profitmaximierung unterliegen.
Erzähl mir von deinen Lieblings- und den Unorten deiner Region? Wo macht man in deiner Stadt im öffentlichen Raum am besten Feierabend? Wo steckt ungenutztes Potenzial?
Ohne eine Milchmädchenrechnung anstellen zu wollen, aber vielleicht könnten solche Orte, welcher Couleur auch immer, sich wirtschaftlich dennoch auszahlen, auch wenn sie keine Rendite für Investoren erwirtschaften: Weil neue Orte der Gemeinschaft individuelle Isolation und Einsamkeit verringern. Das entlastet letztendlich auch die Krankenkassen. Glückliche und ausgeglichene Menschen arbeiten produktiver und sozialer Austausch fördert Ideen und Kreativität. Allesamt doch Dinge, die mir durchaus als gesellschaftlich erstrebenswert erscheinen.
Renaissance der Begegnungsräume
Um einen historischen Vergleich zu wagen: sei es, dass Florenz von Leonardo da Vinci oder das Paris, in dem Alexander von Humboldt seine ersten Reiseberichte verfasste. Es waren jene pulsierenden Schmelztiegel, in denen eine Kultur des Austauschs, des sich gegenseitigen Inspirierens und voneinander Lernens zelebriert wurde. An denen sich die Menschheit, überschwänglich formuliert, in Bestform zeigte. Vielleicht liegt hier eine lohnenswerte Renaissance und zugleich Zukunftsvision verborgen.
Doch weil man mit solchen Konzepten und Ideen wohl eher keine Wahlen gewinnt, wenngleich durchaus ein sich anbahnender Wandel in den Köpfen erkennbar scheint, und einige Konzepte zur Belebung von Innenstädten auch politisch initiiert und gefördert werden, obliegt es am Ende auch der Zivilgesellschaft, dir und mir, sich mit Hirn, Herz und Hand für Orte einzusetzen, die wir brauchen und die uns guttun. Ob durch die Unterstützung schon bestehender Projekte - beim Nachbarschaftsflomarkt oder Stadteilfest, durch die kreative Inanspruchnahme des öffentlichen Raumes oder das gemeinsame Anleiern und Entwickeln neuer Konzepte. Vielleicht beginnt es auch schon damit, sich beim Wandeln durch die Straßen mit offenem Auge öffentlichen Orten bewusster zu werden, verlorene Potenziale zu erspähen und über Verbesserungen zu sinnieren.
Denn nicht ohne Grund heißt es: The best way to complain is to make things!
Um einen ersten Schritt zu wagen, dazu abschließend mein ANDERSMACHER dieser Folge:
Andersmacher
Eine kleine Übung, um Gewohnheiten zu durchbrechen und Alltägliches neu zu entdecken. Denn manchmal braucht es nur einen anderen Blickwinkel, um wieder neugierig zu werden.
Nutze mit deinen Freunden den öffentlichen Raum auf eine neue Art und Weise.
Spielt ein mit Kreide gezeichnetes Mensch-Ärgere-Dich-nicht auf dem Rathausplatz, tragt den Tisch nach draußen und genießt das Abendessen auf dem Gehweg, oder singt gemeinsam „I will survive“ vor der U-Bahn-Station. Weil es Spaß macht und weil es andere dazu inspirieren könnte, es euch gleichzutun. So entsteht Wandel.
In diesem Sinne: schönen Feierabend!
Claas-Hendrik Berg