Feierabend ist... wenn deine To-Do-Liste zu einer Ta-Da-Liste wird.
Gedanken über Feierabend-Optimierung, wissenschaftliche Paradoxe und die Wiederentdeckung des Übersehenen.
Wenn dir gefällt, was du liest und hörst, freue ich mich darüber, wenn du TAoMF abonnierst und mit einer Weiterempfehlung honorierst.
Liebe Feierabend-Philosophen,
Feierabend, 18:30 Uhr. Ich stehe im Supermarkt zwischen Influencer-Eistee-Aufsteller und Verkostungsstand für Brotaufstriche und führe folgenden Monolog: „Jetzt noch schnell einkaufen, dann wenigstens 20 Minuten Sport, Duschen, dann zügig kochen, dann noch irgendwas Tiefsinniges auf Substack posten, dann kann ich endlich entspannen."
Klingt vertraut? Herzlich willkommen im Club der Feierabend-Planer & -Optimierer.
Und ich bin weiterhin Mitglied. Mein Feierabend fühlt sich noch immer häufig so an, wie die Verlängerung meiner To-do-Liste des Arbeitstages. Trotz intensiver Versuche das Gegenteil zu tun. Dabei sollte er sich doch wie eine Tada-Liste anfühlen!
Und statt um die Pflicht, würde ich mich viel lieber um die Kür kümmern: Mikroabenteuer im Hamburger Umland, handgemachte Pasta mit Freunden, Buchclub-Abende bei Kerzenschein. Diese Vielzahl von Leben, die möglich wären, wenn ich doch nur an der ein oder anderen Stellschraube etwas drehe. Morgen fang’ ich damit an, aber heute bin ich zu kaputt und müde!
Die Psychologie des ewigen Suchens
Was als entspannter Feierabend gedacht war, ist zu einem weiteren Optimierungsprojekt geworden. Wir sind eine Generation, die nicht nur den Job gamifiziert, sondern auch die Freizeit optimiert. Wie soll man sonst all die Dinge unter einen Hut bekommen, von denen wir ständig aus allen Richtungen getriggert werden? Meditations-Apps zählen Tage, Fitness-Tracker messen Entspannung, und selbst das Nichtstun wird zur Achtsamkeitsübung mit messbaren Fortschritten.
Das Problem: Wir gewöhnen uns an alles – auch an die schönsten Momente. Die Wissenschaft nennt das Hedonic Adaptation: Das gute Gefühl von gestern ist heute schon normal. Eigentlich eine nützliche Eigenschaft unseres Gehirns, um emotionale Balance zu halten. Blöd nur, wenn wir in einer Kultur leben, die ständige Steigerung verspricht. Dann wird aus der natürlichen Gewöhnung ein Hamsterrad der ewigen Suche nach dem nächsten perfekten Moment.
Das Paradox der Sinnsuche
Hier wird’s interessant – und etwas kontraintuitiv. Während wir alle nach mehr Sinn, mehr Erfüllung, mehr Meaning in unserem Feierabend suchen, zeigt die Forschung etwas Verblüffendes: Die aktive Suche nach Sinn kann uns unglücklicher machen.
Eine Langzeitstudie von Frank Martela fand heraus: Menschen, die intensiv nach Bedeutung in ihrem Leben suchten, waren sechs Monate später weniger zufrieden, hatten schlechtere Beziehungen und neigten dazu, mehr in der Vergangenheit zu grübeln. Die Sinnsuche kann also sogar nach hinten losgehen.
Warum? Wie die Psychologinnen Heintzelman und King es sinngemäß beschreiben: Das Gefühl der Sinnlosigkeit liegt oft nicht daran, dass unser Leben tatsächlich bedeutungslos ist, sondern daran, dass wir erwarten, es müsse sich sinnvoller anfühlen, als es normalerweise der Fall ist.
Alles eine Frage der Perspektive
Zurück zu mir im Supermarkt, genervt zwischen Gemüse und schlechtem Gewissen. Was, wenn ich die Perspektive wechsle? Nicht: „Wie kann ich meinen Feierabend optimaler gestalten?“, sondern: „Warum mache ich das hier eigentlich?"
Die ehrliche Antwort: Weil ich gutes, selbstgekochtes Essen genieße. Weil das endlose Rühren des Risottos etwas Meditatives hat. Weil es mich glücklich macht, Zeit bei einem leckeren Abendessen mit meiner Freundin zu verbringen. Weil es Quality Time ist – auch wenn sie mit gestresstem Supermarkteinkauf beginnt.
Das ändert nichts daran, dass der Einkauf nervig bleibt. Aber er wird zum ersten Schritt eines Abends, an dem ich Menschen, die mir wichtig sind, etwas Gutes tue - oder mir selber. Gleiche Kassenschlange, anderes Gefühl.
Manchmal braucht es nur eine andere Frage, um im selben Moment etwas anderes zu sehen. Auch zwischen tiefgekühlten Kohlrouladen und Kassenschlange.
Der blinde Fleck des Alltags
Vielleicht begehen wir einen Fehler, wenn wir zu verkopft nach dem Sinn in allem suchen – nach dem Feierabend unserer Träume. Sind wir dabei zu sehr auf das konzentriert, was sein könnte, statt auf das, was bereits ist?
Die Forschung legt eine andere Strategie nahe: sich mehr auf die Bereiche des Feierabends zu konzentrieren, in denen bereits Genuss, Entspannung und erfüllende Momente existieren. Nicht die Jagd nach neuen Bedeutungen, sondern das Erkennen vorhandener.
Das kann winzig sein: Das Gefühl, endlich die Schuhe ausziehen zu können. Der dezent-wohlige Geruch der eigenen vier Wände. Die fünf Minuten absolute Stille, bevor man sich dem Feierabend widmet.
Manchmal sind es die mundänen, scheinbar langweiligen Routinen des Alltags, die uns den Weg bereiten für neue Einsichten – wenn wir sie lassen.
Eisbrecher
Fragen, die man selten stellt, deren Antworten aber spannend, witzig oder tief blicken lassen.
Welche deiner Feierabend-Routinen würdest du spontan als „verschwendete Zeit“ bezeichnen – und was, wenn sie in Wirklichkeit gar nicht verschwendet ist?
Von der Suche zum Finden
Die Forschung unterscheidet zwischen aktivem Suchen nach Sinn und bereits vorhandenem Sinn. Letzteres ist der stabilere Prädiktor für Wohlbefinden.
Übertragen auf den Feierabend: Was wäre, wenn wir einfach mal mit der Suche und dem Vergleich aufhören würden? Was, wenn wir davon ausgehen, dass unser Feierabend bereits meaningful ist – wir nur vergessen haben, richtig drauf zu achten?
Vielleicht ist das gemütliche Abhängen mit der Freundin auf der Couch am Abend nicht ‚Zeit verschwenden‘, sondern ein wohltuendes Abschalten und Ankommen. Vielleicht ist selbst das Aufräumen nicht nur lästig, sondern ein Weg, Ordnung in die Gedanken zu bringen.
Der Schlüssel liegt darin, sich auf die Bereiche zu konzentrieren, in denen bereits ein Gefühl von Sinn und Erfüllung vorhanden ist, statt obsessiv nach dem zu suchen, was fehlt. Wenn wir davon ausgehen, dass bestimmte Feierabend-Aktivitäten unwichtig sind, verstärken wir diese Sichtweise nur. Wenn wir stattdessen das Vorhandene würdigen, überträgt sich dieses Gefühl ganz natürlich auf andere Bereiche.
Ich schlage vor, wir stoppen für einen Moment das Hamsterrad und machen ein kleines Experiment: drei Abende lang einfach nur beobachten. Nicht bewerten, nicht optimieren, nicht vergleichen. Nur schauen: Was ist in meinem Feierabend bereits da? Welche winzigen Momente fühlen sich – ohne dass ich danach gesucht hätte – bedeutsam an?
Vielleicht ist die wahre Kunst des Feierabends nicht die spektakuläre Flucht aus dem Alltag, sondern das bewusste Hinsehen auf das, was bereits da ist.
Andersmacher
Eine kleine Übung, um Gewohnheiten zu durchbrechen und Alltägliches neu zu entdecken.
Sinn-Spotting Challenge: Drei Abende lang schreibst du abends eine Kleinigkeit auf, die sich – ohne dass du bewusst danach gesucht hast – meaningful angefühlt hat. Kann winzig sein: der Geruch von frischgebrühtem Tee, ein Lächeln im Treppenhaus, das Gefühl sauberer Bettwäsche.
Der Sinn findet uns, wenn wir aufhören zu rennen.
In diesem Sinne: einen entspannten Feierabend – auch wenn er nicht optimiert ist.
Claas-Hendrik Berg
P.S. Wie ist das bei dir? Seid ihr auch Mitglied im Club der Feierabend-Optimierer? Antwortet gerne – ich lese jeden Kommentar und freue mich über deine Perspektive.