Fünf Songs für fünf Feierabende - Woche 49
Von englischen Cottage-Sessions über baltische Klavierfunken, Luandas vergessene Vinyl-Schätze und Delhis Ballroom-Disco-Walzer bis zu türkischem Psychedelic-Folk-Revival.
Jeder Feierabend ist einzigartig. Dies ist mein Versuch, mit handverlesener Musik dieses Spektrum durch musikalische Hinter- oder Vordergrundbeschallung zu supporten. Von entspannt bis aktiv, von nostalgisch bis weltoffen. Jenseits von algorithmischem Einheitsbrei und 0815-Radiogedudel.
Mein Stamm ist fast voll!
Lange Zeit habe ich geglaubt und vielleicht auch ein wenig gehofft, dass es ausreicht, wenn ich einfach meinen Newsletter regelmäßig schreibe, damit er langsam und genüsslich wächst. Aber falsch gedacht. „Just show up“ funktioniert nicht mehr. Substack ist keine Newsletter-Plattform mehr, sondern ein soziales Netzwerk. Für diejenigen unter euch, die nicht über Substack hier gelandet sind: Kommt doch mal her! Hier ist es schön! Nette Leute, Wertschätzung, Inhalte mit Tiefgang und Ehrlichkeit. Wer weiß, wie lang das noch gut geht. Nutzt also die Gunst der Stunde und atmet ein wenig frische Social-Media-Luft (fast) ohne Werbe-Bombardement, Bots und Hass.
Aber back to topic: Wachstum auf Substack bedeutet Notes posten. Und liken. Und kommentieren. Das mache ich nun seit 6 Wochen und es folgen mir nun bald 150 Menschen. Und lesen und hören das, was ich hier so tue. An dieser Stelle muss ich kurz durchschnaufen und Danke an jede und jeden einzelnen von euch sagen. Schön, dass ihr alle hier seid! Schön, dass es euch gibt!
Ein Teil in mir folgt zwar noch der kapitalistischen Grundhaltung von MEHR, MEHR, MEHR! HÖHER, SCHNELLER, WEITER! Aber der steht nicht am Steuer, ist also egal.
Denn der andere Teil von mir ist sich einer Sache bewusst: Ich bin kurz davor, mit euch die optimale Größe eines Tribes, meines Stammes, zu erreichen. Es ist eine magische Zahl. Laut dem Psychologen Robin Dunbar ist es eine theoretische, kognitive Grenze an Menschen, mit denen eine Einzelperson soziale Beziehungen unterhalten kann. Danach wird alles anders. Braucht neue Regeln. Viele Stämme unserer Vorfahren hatten ähnliche Größen. Warum also hier nicht Schluss machen? Die Gästeliste schließen!
Naja … weil mehr Leute mit positiven Rückmeldungen halt doch immer noch ein wenig toller sind. Zumindest in so manchen Tagträumen.🙃
Egal wie es sich entwickelt. Ihr alle hier bekommt alle einen Ehrenplatz in meinem Herzen für die ersten Wilden, Verrückten, die Bock auf neue Musik und bessere Feierabende haben. Die mich auf meiner eigenen Reise ins Ungewisse begleiten.
Ohnehin ist fraglich, wie lange ich es noch schaffe, konstant weise Worte und Content für die Substack-Notes zu produzieren. Ich merke, wie die tägliche Dopamin-Dosis meine Neuronen verklebt und meine Screentime wieder in die Höhe schießen lässt. Genau das, was ich eigentlich nicht brauche.
Grund genug, mir all die Tipps und Tricks in Erinnerung zu rufen, um die eigene Zeit am Bildschirm zu minimieren, ohne direkt in komplette digitale Abstinenz flüchten zu müssen. Ein ausführlicher Artikel dazu dann zeitnah in deinem Postfach.
Und nun ein wenig Musik:
PS: Es ist wieder Zeit für Whamagedon!
Jeder Feierabend ist einzigartig. Dies ist mein Versuch, dieses Spektrum durch musikalische Hinter- oder Vordergrundbeschallung zu supporten. Jede Woche 5 Tracks für die Facetten deines Feierabends.
Für den Übergang | Different Styles of Smoothness
Pete Josef – Colour
Pete Josef saß an einem warmen Sommertag in den Hügeln von Somerset und schrieb diesen Song innerhalb weniger Stunden. Spontan, als kreativer Ausbruch. Eine Hymne an die Natur als Quelle von Freude und inneren Frieden. Der Track hat diese entspannte Selbstverständlichkeit von Dingen, die einfach passieren dürfen.
Ursprünglich mit Drum Machines und Synths gedacht, nahm Josef ihn dann mit einem akustischen Quartett im Wohnzimmer eines Cottages auf. Neo-Soul trifft auf Jazz, Downbeat auf organische Instrumentation.
Der Text ist simpel und wundervoll: „Walking through flowers, it makes me high.“ Der ganze Song versprüht dieses wohlig-warme Gefühl von Glückseligkeit, das sich einstellt, wenn man die Wunder der Natur genießt. Oder wie es die Attention Restoration Theory nennen würde: soft fascination! Einfach draußen sein, Farben sehen, goldene Felder durchqueren. Die Zeile „meadows of my mind“ verbindet das – die Wiese vor dir wird zur Wiese in dir. Josef war vorher jahrelang als Musiker mit Roni Size unterwegs, tourte mit Kelis, produzierte elektronische Club-Hits. Aber für sein Solo-Debüt zog er sich ins Grüne zurück und machte Musik, die klingt wie ein langer Spaziergang nach Feierabend.
Dazu dieser kleine Reminder: „It’s alright here, don’t need cinema screens to fill my mind!“ Also raus mit dir, ab in die Natur! (Und komm mir jetzt nicht mit dem schlechten Wetter!)
Oder hör auf Apple Music | YouTube | Bandcamp | Deezer | Tidal | SoundCloud | Amazon Music
Hör das, wenn: Du einen kleinen musikalischen Reminder an einen sommerlichen Spaziergang durch die Natur im kalten, grauen Dezember benötigst!
Für das Innehalten | Deep Listening & meditation
Niklas Paschburg – Spark
Zehn Tage in einem Strandhaus an der Ostsee. Tag eins: dieser Track. Niklas Paschburg war 23, hatte sein Kompositionsstudium geschmissen, und jetzt saß er in Grömitz mit der Aufgabe, ein Album zu schreiben.
“Spark” war der erste Song – der zündende Funke, wie der Titel sagt.
“I went to the Baltic Sea and spent some time in a beach house to compose my album. Spark was my very first impression of this journey and I composed this song on my first day. It captures all my excitement but also respect where this journey will take me.”
NPR nannte das resultierende Album später „wahrscheinlich eines der schönsten Alben 2018“, aber dieser Track hier ist der Moment davor. Die Aufregung und der Respekt, wenn man nicht weiß wohin die Reise geht, aber spürt, dass sie wichtig wird.
Ich habe Niklas am Anfang seiner Reise durch die Arbeit auf dem Futur 2 Festival kennenlernen dürfen. Ein wundervolles Konzert mit magischer Stimmung.
Klanglich bewegt sich Paschburg im Neo-Classic zwischen Nils Frahm und Ólafur Arnalds: Klassisches Klavier trifft elektronische Produktion. Musik die Raum lässt, ohne zu verstummen.
Paschburg spielt mittlerweile in der Elbphilharmonie und schreibt Filmmusiken. “Spark” bietet einen wundervollen Einstieg in seine Klangwelten.
Oder hör auf Apple Music | YouTube | Bandcamp | Deezer | Tidal | SoundCloud | Amazon Music
Hör das, wenn: Du vor etwas Neuem stehst und diese Mischung aus Aufregung und leichter Panik kennst – und sie einfach mal fühlen willst, statt sie wegzudrücken.
Für eine Zeitreise | Vintage Vibes
Mário Rui Silva – Mgeni
Jahrzehntelang verstaubte dieser Track auf Vinylplatten in Luandas Second-Hand-Läden. Mário Rui Silva war in Angola eine Legende – Gitarrist, Arrangeur auf Bongas legendärem Album „Angola 72“, Musikologe, der sein Leben der Dokumentation angolanischer Musik widmete. International? Praktisch unbekannt.
Ein wunderbarer Freund aus Porto hat mir vor ein paar Jahren den Link zu diesem Track geschickt und Boom! - Schockverliebt. Man kann nicht anders, als sofort leicht mitzugrooven und gedanklich in sommerliche Gefilde abzudriften.
„Mgeni“ bedeutet auf Swahili „Gast“ – und klanglich fühlt sich der Track auch so an. Wie ein Besucher, der leise durchs Zimmer geht. Akustische Gitarre, die stark vom brasilianischen Bossa Nova inspiriert, aber mit unverkennbar angolanischen Semba-Rhythmen ist. Silvas Konzept bei seinem Album: Afrikanische Rhythmen wurden von Sklaven nach Brasilien gebracht und haben dort neue Musik geboren. Seine Musik ist der Rückruf – eine Erinnerung daran, wo diese Klänge herkommen.
Das Re-Release „Stories from Another Time 1982–1988“ ist mehr als nur schöne Musik für den Sommer. Es erzählt einen Teil Musikgeschichte. Und das nicht nur mit Worten.
Oder hör auf Apple Music | YouTube | Bandcamp | Deezer | Tidal | SoundCloud | Amazon Music
Hör das, wenn: Du dich fragst, wo eigentlich all die Musik herkommt, die du liebst – und bereit bist, eine Spur zurückzuverfolgen, die dich überraschen wird.
Für den Horizont | Allerweltsmusik
Peter Cat Recording Co. – Floated By
Diese Band aus Delhi nennt ihr Genre selbst „gypsy jazz, psychedelic cabaret, ballroom disco“ – und meint das nicht ironisch, aber dafür vielleicht leicht belustigt. Denn ein klares Genre für Peter Cat Recording Co. zu bestimmen, ist nicht ganz einfach. Frontmann Suryakant Sawhney hatte 2008 in San Francisco eine spirituelle Erfahrung, die ihn überzeugte, Musik ernsthaft zu verfolgen. Der Bandname ist eine doppelte Hommage: an ein legendäres Restaurant in Kolkata und an einen Jazz-Club aus Haruki Murakamis Romanen.
Ich hab die Band bereits vor einigen Jahren, kurz nach dem Release ihres Albums „Bismillah“ 2019 entdeckt. Es fühlte sich an, wie das Finden eines verborgenen Schatzes. Eine Band aus Delhi mit einem kosmisch-zeitlosen Sound, der alle meine wohlmöglichen Vorurteile und mein Wissen über Musik aus Indien hinwegfegte. Und niemals hätte ich gedacht, dass ich ein paar Jahre später in den Genuss kommen würde, sie einmal live im Hamburger Mojo Club sehen und hören zu können.
Der Track öffnet mit einem Trompeten-Gitarren-Duett, dann kommt Sawhneys samtiger Bariton dazu, der mich an irgendwen erinnert, nur dass ich nicht weiß, an wen. Jazz-Blechbläser treffen auf psychedelische Gitarren, die Band vereint Leute aus Metal, Folk, Avantgarde. Klingt wie ein Bollywood-Soundtrack, der durch einen Indie-Rock-Filter gelaufen ist – warm, cinematisch, ein wenig schräg. Als würden sich Beirut und Khruangbin in Mumbai treffen.
Dazu ein philosophischer Gedanke: Selbst die bedeutsamsten Momente sind nur Punkte auf einer Zeitlinie, die weiterfließt. Das ist nicht traurig gemeint. Nur ehrlich. That’s life. And its beautiful.
Oder hör auf Apple Music | YouTube | Bandcamp | Deezer | Tidal | SoundCloud | Amazon Music
Hör das, wenn: Du gerade etwas Großes hinter dir hast und beim Aufräumen merkst dass es schon vorbei ist – und das irgendwie in Ordnung findest.
Für den Flow | Global Groove
Altın Gün – Goca Dünya
„Hey, die große alte Welt, bist du voller Sorgen? Sag mir, du vergängliche Welt, bist du voller Leid?“
Das ist kein fröhlicher Text. Der Refrain wiederholt: „Mit Sorgen oder ohne Sorgen weint man, in dieser Welt.“ Existentieller Determinismus aus der Sufi-Tradition – die Welt als Durchgangsort, als Karavanserail, Gasthaus für Karawanen und Reisende.
Aber Altın Gün – entstanden 2016 durch eine Facebook-Anzeige – haben aus diesem 1973er-Klassiker von Özdemir Erdoğan etwas gemacht, bei dem man tanzt, während man nachdenkt. Denn manche Sorgen lassen sich manchmal wegtanzen.
Das Genre lässt sich als Anatolian Rock beschreiben – türkischer Psychedelic-Folk aus den 70ern. Was du hörst: funkige Drums und Percussion-Layers, Wah-Wah-Gitarren, analoge Synthesizer, und mittendrin die elektrische Saz – eine türkische Langhalslaute mit hellem, charakteristischem Klang. Dazu kraftvolle Vocals auf Türkisch, die dich packen. Der Track hat diese raue Energie von 70er-Psych-Rock. Dancefloor-freundlich, aber mit Seele.
Das war Altın Güns Debüt-Single 2017. Mittlerweile sind sie die erste türkischsprachige Band mit Grammy-Nominierung. Aller Anfang beginnt mit einem guten Flow!
Oder hör auf Apple Music | YouTube | Bandcamp | Deezer | Tidal | SoundCloud | Amazon Music
Hör das, wenn: Du Lust auf Bewegung hast, aber nicht auf leere Energie – sondern auf Groove, der dich gleichzeitig zum Tanzen und Nachdenken bringt.
Das war es wieder für diese Woche! Es würde mich freuen, wenn der ein oder andere Song dir ein paar Minuten wohlverdiente Auszeit ermöglicht und dich bei deinem Feierabend, wie immer er auch aussehen mag, unterstützt. Falls ein Song besonders gut passt, bin ich gespannt darauf zu hören, in welchem Moment, in welcher Stimmung er dich gefangen hat.
Und wenn dir gefällt, was du liest und hörst, freue ich mich darüber, wenn du TAoMF abonnierst und mit einer Weiterempfehlung honorierst.
In diesem Sinne: Schönen Feierabend.
Claas-Hendrik Berg



Nr. 5 war mein Favorit für heute🩵 (und danke Claas-Hendrik auch fürs Verlinken zu all den Musikplattformen!😅)