Hey Stress, wollen wir Freunde werden?
Warum es sich lohnt, unsere Beziehung zum Stress zu hinterfragen. Über die unerwarteten Vorteile von Anspannung und die Kunst, Stress umzudeuten.
Wenn dir gefällt, was du liest und hörst, freue ich mich darüber, wenn du TAoMF abonnierst und mit einer Weiterempfehlung honorierst.
Feierabend: Das ist nicht nur das, was tagtäglich auf Lohnarbeit folgt. Bei Feierabend schwingt doch auch immer eine gewünschte Abstinenz von Stress mit. So zumindest meine Idealvorstellung. Feierabend sollte sogar das genaue Gegenteil von Stress sein. Zeit und Raum für Entspannung und Revitalisierung vom Arbeitstag. Aber selbstverständlich ist das im real existierenden Feierabend ein fantastischer, wenngleich unrealistischer Tagtraum.
Aber ist die Sache denn so einfach? Feierabend ohne Stress = sehr gut; mit Stress: alles doof? In den letzten Jahrzehnten hat sich in der westlichen Welt um den Begriff Stress eine ganze Kultur, Industrien und bestimmt Dutzende von Philosophien entwickelt. Und das, obwohl Stress doch eigentlich ein sehr persönliches Empfinden mit individuellen körperlichen wie geistigen Ausprägungen ist.
Ist es sinnvoll, dass wir Stress oft als negativ abstempeln? Oder gehen uns dabei ein paar spannende Facetten dieser Reaktion auf äußere Umstände verloren? Ein Versuch, da etwas Ordnung und Struktur hineinzubringen.
Eisbrecher:
Fragen, die man selten stellt, deren Antworten aber spannend, witzig oder tief blicken lassen. Sie öffnen Türen zu Seiten, die du an anderen bisher nicht kennst. Beantworte sie erst selbst, dann stell sie deinen Lieblingsmenschen.
Welcher Stressor ist deine Achillesferse? Auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist, die von anderen kaum bemerkt wird, die aber dein Stresslevel bis ins absolute Maximum ansteigen lässt? Ein kleiner Delay bei einem Termin, das Anrufen beim Zahnarzt, der Supermarkteinkauf an einem Freitagabend?
Bei mir ist es, wenn in meinem Kopf zurechtgelegte Zeitpläne drohen zu scheitern. Passiert leider noch viel zu oft. Liegt wohlmöglich eher an der schlechten Planung als an der Ausführung … aber naja.
Wie sieht es bei dir aus? Was stresst dich so richtig?
Was ist Stress eigentlich? Eine kleine Begriffskunde
Meine persönliche Beziehung zu Stress ist mehr als ambivalent: Als ich kurz vor dem Burn-out stand, litt ich definitiv unter chronischen, dauerhaften, nicht enden wollenden Stress. Unfähig, die innere Maschinerie aufzuhalten oder zu verlangsamen. Nach außen hin funktionierte ich, unter der Oberfläche: häufige muskuläre Verspannungen, Reizbarkeit und Stimmungsschwankungen und ein ständiges Gefühl der Anspannung. Von meinen nicht mehr existierenden Fingernägeln ganz zu schweigen.
Aber es gab da auch die Zeiten, an denen das Stresslevel um meinen Sweetspot herumgetänzelt ist und zu verzückenden Flow-Momenten geführt hat, in denen mich das Abarbeiten von Aufgaben, das Durchstreichen von To-dos in regelrechte Ekstase versetzt hat.
Und irgendwo dazwischen gibt es die stetig wiederkehrenden kleinen Weilchen, in denen ich durch eine kleine Verspätung der U-Bahn, ein zu langsam fahrendes Auto vor mir, einen nicht-auf-den-Punkt-kommen-wollenden Dozenten in puren Stress verfalle.
Stress, so könnte man also meinen, ist also vielmehr ein Spektrum, als eine klar definierbare Größe. Und allzu alt ist dieses Konzept auch noch nicht.
Stress als Teil unserer Identität
Stell dir vor, du solltest einem Menschen aus dem Jahr 1800 erklären, dass du „im Stress“ bist. Vermutlich würde er dich verwirrt anschauen – nicht weil es damals keine ähnlichen Herausforderungen gab, sondern weil „Stress“ als Zustand – als Seinsweise – eine moderne Erfindung ist. Biologisch sind die Auswirkungen von Stressoren gleich, die „Stress-Identität“ ist kulturell konstruiert. Eben auch, weil Stress auf so vielen Ebenen Beachtung findet: wissenschaftlich erforscht, therapeutisch behandelt, medial thematisiert und gesellschaftlich diskutiert. Das alles spiegelt sich auf uns zurück.
Der Begriff stammt ursprünglich aus der Physik (Materialbelastung) und wurde erst in den 1950ern von Hans Selye auf menschliche Erfahrungen übertragen. Heute verstehen wir Stress auf drei Arten:
Als äußeren Reiz (der Stressor): die Deadline, der Konflikt, der Stau
Als unsere Reaktion darauf: Herzklopfen, Anspannung, Grübeln
Als Ungleichgewicht: wenn Anforderungen unsere Bewältigungsmöglichkeiten übersteigen
Stress ist ein komplexes Reaktionsmuster – körperlich und psychisch untrennbar verknüpft. Aber derselbe Stressor kann bei mir Kopfschmerzen auslösen, bei dir Schlaflosigkeit und beim Nachbarn einen kreativen Schub.
Zwei Gesichter des Stress: Eustress meets Disstress
Da ist dieser gute Stress – das Herz klopft, aber wie ein Motor auf Hochtouren. Konzentration wird kristallklar, Zeit verfliegt.
Dann der andere: Der sich im Nacken einnistet, nachts mitkommt, morgens schon wach ist. Derselbe erhöhte Puls, dasselbe Adrenalin – aber blockierend statt beflügelnd.
In der Wissenschaft werden diese beiden Formen Eustress und Disstress genannt – beide sind körperlich relativ identisch, aber psychisch Welten voneinander entfernt. Hierzu die wichtige Warnung: Auch „guter“ Stress wird toxisch, wenn er chronisch wird. Unser Körper ist für kurze Stress-Sprints ausgelegt, nicht für Marathon-Dauerbelastung. Soweit, so bekannt.
Die neuere Forschung zu Stress bietet faszinierende Erkenntnisse: Eine Studie mit 30.000 Amerikanern über acht Jahre zeigte, dass Menschen mit hohem Stress UND der Überzeugung, Stress sei schädlich, ein 43 % höheres Sterberisiko hatten. Menschen mit ebenso hohem Stress, aber ohne diese Überzeugung, hatten das niedrigste Sterberisiko aller Teilnehmer – sogar niedriger als jene mit wenig Stress.
Die Neurobiologie dahinter: Wenn wir Stress als hilfreich umdeuten, verändert sich buchstäblich unser Hormoncocktail. Statt nur Cortisol (das „Stresshormon“) auszuschütten, produziert der Körper vermehrt Oxytocin – das „Bindungshormon“. Es entspannt das Herz-Kreislauf-System und macht uns sozialer, empathischer.
Stress durch kulturelle Brille: Warum unsere Sichtweise so wichtig ist
Weitere spannende Perspektiven finden sich, wenn wir einmal über den Tellerrand unserer turbokapitalistischen Höher-Schneller-Weiter Kultur hinwegsehen: Während wir Stress oft individualisieren („Du musst besser damit umgehen“), wird in vielen indigenen Kulturen der gemeinschaftliche Aspekt von individuellen Stressmomenten betont – Stress wird in vielen Situationen kollektiv bewältigt, nicht allein ertragen.
In der buddhistischen Tradition wird Stress als Teil der Existenz akzeptiert, anstatt ihn zu bekämpfen. Das Leiden entsteht weniger durch den Stress selbst als durch unser Widerstreben dagegen.
Bei uns? Stress wird als individuelles Versagen pathologisiert und gleichzeitig als Statussymbol gefeiert. „Ich bin maximal gestresst, aber das zeigt, wie wichtig mir meine Arbeit ist! Und schließlich definiere ich mich über sie!”
Vielleicht liegt hier ein weiterer Schlüssel: Unsere Beziehung zum Stress ist wichtiger als der Stress selbst. Denn mit welchen Gefühlen wir ihm begegnen, hat Einfluss darauf, wie unser Körper darauf reagiert.
Andersmacher: Cognitive Reappraisal
Eine kleine Übung, um Gewohnheiten zu durchbrechen und Alltägliches neu zu entdecken. Denn manchmal braucht es nur einen anderen Blickwinkel, um wieder neugierig zu werden.
Wo ich sonst an dieser Stelle eher mit Stehgreif-Aufgaben um die Ecke komme, wird es heute etwas wissenschaftlich fundierter, denn es geht um das bewusste Umdeuten automatischer Stressgedanken, das unter dem Namen Cognitive Reappraisal eine bewährte Therapieform darstellt.
Aber auch ohne therapeutische Begleitung lohnt es sich, sich an dieser Technik einmal auszuprobieren. Die Schritte lauten wie folgt:
Stopp und Erkennung: Nimm dir einen Moment Zeit, um die Situation zu erkennen, die bei dir Stress auslöst. Sei so konkret wie möglich – was genau löst deine Stressreaktion aus? Achte auf deine ersten, automatischen Gedanken zur Situation. Diese sind oft negativ und können Katastrophendenken oder andere kognitive Verzerrungen enthalten.
Hinterfragen:
Frage dich: „Betreibe ich Katastrophendenken?“ „Stelle ich mir das schlimmstmögliche Szenario vor?“
Überprüfe: „Welche Beweise habe ich für meine automatische Bewertung der Situation?“
Hinterfrage: „Ist diese Interpretation die einzig mögliche oder gibt es andere Perspektiven?“
Perspektivenwechsel: Entwickle bewusst andere Sichtweisen auf die gleiche Situation:
Suche nach möglichen positiven Aspekten oder Lernmöglichkeiten in der Situation
Frage dich: „Kann ich für irgendeinen Aspekt dieser Situation dankbar sein?"
Überlege: „Inwiefern bin ich durch diese Erfahrung besser gestellt als zuvor?“
Reflektiere: „Was könnte ich aus dieser Erfahrung lernen?“
Humor als Geheimwaffe: Versuche, eine humorvolle Perspektive auf die Situation zu finden. Forschungen zeigen, dass „gutartiger“ Humor (also weder sarkastisch noch zynisch) – das Hervorheben der positiven Seiten von Widrigkeiten – sowohl negative Emotionen reduzieren als auch positive Emotionen verstärken kann.
Aber Achtung: Es geht nicht darum, jeden Stress mit aller Gewalt ins Positive zu übersetzen. Toxische Positivität und erzwungener Optimismus sind nicht das Ziel. Es geht darum, sich an den kleinen alltäglichen Ärgernissen des Alltags zu üben. Diese kleinen Situationen, an denen man sich, wenn man darüber kurz nachdenken würde, grundlos stressen lässt.
Und jetzt?
Was sagt uns also das Ganze? Zum einen, dass es sich lohnt, seine eigene Einstellung zum Stress einmal genauer zu beleuchten, zu hinterfragen und auch mal einen Perspektivwechsel zu wagen. Stress ist facettenreich: von energetisierend in kleinen Dosen bis hin zu schädlich und zerstörend in lang anhaltenden Mengen. Dauerhafter Stress ist nie gesund – egal, wie positiv wir ihn framen. Bei struktureller Überlastung braucht es echte Veränderungen, nicht nur andere Gedanken. Aber in temporären Stressmomenten zeigt sich unser Körper durchaus in der Lage, Nutzen aus dieser Reaktion zu ziehen. Unser Gehirn lernt aus stressigen Erfahrungen – aber nur in der Erholung danach.
Umso wichtiger also, besonders nach stressigen Arbeitstagen den Feierabend als eine Zeit zu nutzen, in der aus Stress Stärke werden kann.
Zum anderen lohnt es sich vielleicht auch auf gesellschaftlicher Ebene, Stress einem Perspektivwechsel zu unterziehen. Ihn weniger immer nur als individuelles Ding, an dem ohnehin jeder leidet, zu verstehen, sondern auch als etwas, das als Gemeinschaft besser bewältigt werden kann.
In diesem Sinne: Lass dich nicht zu sehr stressen! Und falls doch, halt kurz inne und frag dich, ob es sich gerade lohnt.
Schönen Feierabend,
Claas
P.S.: Teil gerne deine Stress-Umdeutungs-Experimente. Die besten Erkenntnisse machen wir oft gemeinsam.

