Quälende, fehlende Langeweile & 5 Tracks für den Feierabend
Haben wir verlernt, uns zu langweilen? Was geht dabei verloren und was können wir in Langeweile finden? Dazu Musik für deinen Feierabend.
Musik für fünf verschiedene Feierabend-Momente. Von entspannt bis aktiv, von nostalgisch bis weltoffen. Dazu Gedanken von, mit und über den Feierabend.
Wie oft bist du eigentlich gelangweilt?
Ich meine damit so richtig gelangweilt. Und damit meine ich nicht Momente, in denen du gedankenverloren durch den Substack-Feed scrollst. Sondern weil du einfach nichts zu tun hast. Mir ist aufgefallen, dass bei mir Phasen der Langeweile de facto nicht mehr auftreten. Sie sind einfach weg. Denn in jedem Moment, der vielleicht das Potenzial hätte, in Langeweile zu enden, greife ich mir mein Handy. Neue Reize. Sofort. (Kennst du, oder?)
Aber ist das eigentlich gut so? Ist das ein Zeichen von technischem Fortschritt und Hochkultur – dass wir uns nicht mehr langweilen müssen? Oder missinterpretieren wir Langeweile fälschlicherweise als etwas Schlechtes? Sollten wir uns vielleicht sogar wieder mehr langweilen?
Diese Woche geht es genau darum: um Langeweile, warum sie gut und wieso sie schlecht ist, und fünf ausgewählte Songs, die in ihrer Art und Weise mit Langeweile spielen.
Eisbrecher der Woche
Fragen für dich und andere Menschen. Zuerst für dich selbst beantworten, dann im Hinterkopf fürs nächste Gespräch behalten und die Frage selbst stellen. Denn Feierabend macht man nicht nur allein!
Wann hast du dich das letzte Mal so richtig gelangweilt?
Langeweile hat viele Facetten und ist eigentlich immer individuell. Langeweile kann einen überkommen, wenn die Aufgaben zu monoton sind, wenn keine neuen Reize auf einen einprasseln, wenn man unausgelastet ist. Wann hat sie dich zuletzt getroffen, wie hat sie sich angefühlt und hast du etwas dagegen unternommen?
Von wegen langweilig
Wenn ich an Langeweile denke, assoziiere ich damit Kindheitserinnerungen. Zum einen, weil ich schon lange keine echte Langeweile mehr verspürt habe. Zum anderen, weil dieses Gefühl aus eben diesen Kindheitstagen noch irgendwie präsent ist – bei mir eingebrannt.
Langeweile – das waren immer Momente, in denen ich nicht beschäftigt wurde oder mit mir selbst nichts anzufangen wusste. Langeweile war unangenehm.
Dabei ist Langeweile per Definition vielmehr ein innerer Zustand, der signalisiert, dass das, was man gerade tut, für einen nicht passt. Das Gehirn merkt: Wir setzen unsere Ressourcen gerade inadäquat ein. Wir sollten etwas anderes tun.
Es ist der Wunsch, mit der Welt zu interagieren – aber die Feststellung, es gerade nicht tun zu können. Man will etwas Bedeutsames tun, findet aber keinen Anknüpfungspunkt.
Langeweile ist eigentlich weder gut noch schlecht. Sie ist ein Signal, das uns dazu anstoßen soll, uns neu zu orientieren.
In Momenten des Leerlaufs wird neurologisch gesehen das sogenannte Default Mode Network aktiviert. (Ich kann das auch nicht aussprechen.) Oft kommen genau dann die großen Sinn- und Identitätsfragen auf.
Das Problem: Diesen großen Fragen weichen wir gerne reflexhaft aus – notfalls durch Selbstablenkung um jeden Preis.
Wenn wir uns nie mehr langweilen, fehlen uns wichtige Regenerations- und Orientierungsprozesse. Das kann dazu führen, dass wir impulsiver, unruhiger und anfälliger für unkluge Kompensationen werden.
Denn in diesen reizarmen Phasen sortieren wir eigentlich erst die Eindrücke des Tages, ordnen sie ein. Mental aufräumen, sozusagen.
Und aus dem Haushalt wissen wir ja, welche Vorteile es hat, gelegentlich mal aufzuräumen: Man findet Dinge schneller. Alles fühlt sich geordneter an. Man kann sich auf das konzentrieren, was man eigentlich gerade sucht.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass es mir ziemlich guttun würde, mich häufiger mal wieder zu langweilen.
Das hat auch irgendwie was damit zu tun, mal wieder herunterzukommen. Durchzuatmen. Innezuhalten. Die Zeit kurz einfach mal so verstreichen zu lassen, um sich selbst zu sammeln.
In unserer heutigen Welt ist Langeweile kein besonderes Statussymbol. Wer sich langweilt, hat einfach nichts zu tun. Der ist vielleicht selbst langweilig. Oder faul und unproduktiv.
Und so was können wir in unserer Gesellschaft ja nicht gebrauchen. (Ironie off.)
Aber vielleicht sollten wir gerade Leerläufe mal wieder zulassen. Momente der persönlichen Selbstvergewisserung und vielleicht auch der Kurskorrektur – die könnten für uns persönlich, aber auch für unsere Gesellschaft, durchaus hilfreich sein.
Denn manchmal brauchen wir einfach ein wenig Abstand von den Problemen des Alltags. Wir brauchen eine neue Perspektive, einen frischen Blick, um vielleicht auch auf bessere Lösungen zu stoßen.
Ich für meinen Teil werde versuchen, in den kommenden Wochen mir bewusst eine Umgebung zu schaffen, in der es mir wieder gelingen kann, mich zu langweilen.
Andersmacher der Woche
Eine kleine Übung, um Gewohnheiten zu durchbrechen und Alltägliches neu zu entdecken.
15 Minuten Langeweile
Diese Woche: Einmal 15 Minuten bewusst langweilen. Kein Handy, kein Buch, kein Podcast. Nur die Leere und ich.
Ich wähle einen Moment – am besten dort, wo ich normalerweise reflexhaft zum Handy greife.
Timer auf 15 Minuten, Handy außer Reichweite.
Einfach dasitzen. Aus dem Fenster starren, Decke anschauen, Gedanken treiben lassen.
Das Ziel ist nicht Erleuchtung. Das Ziel ist: Aushalten. Spüren, wie sich echte Langeweile anfühlt. Vielleicht wird’s unbequem. Vielleicht taucht ein Gedanke auf, den ich seit Wochen vor mir herschiebe. Vielleicht passiert einfach …. Nichts.
Für weiteren Input zum Thema empfehle ich diese Arte Doku.
Fünf Tracks für den Feierabend
Jeder Feierabend ist einzigartig. All Feierabende are beautiful. Dies ist mein Versuch, dieses Spektrum durch musikalische Hinter- oder Vordergrundbeschallung zu supporten. Jede Woche 5 Tracks für die Facetten deines Feierabends.
Für den Übergang | Different Styles of Smoothness
Kokoroko – Ti-de
„Today“ – so heißt dieser Track auf Sierra Leone Creole. Und genau das macht er: Er holt dich ins Jetzt.
Die Londoner Jazz-Truppe Kokoroko hat hier etwas gebaut, das wie eine musikalische Meditation funktioniert. Oscar Jeromes Gitarrenlinien kreisen hypnotisch um sich selbst, während die Bläser sanft darüber schweben. Kein Stress, kein Druck – nur dieser warme, rollende Groove, der dich aus dem Arbeitskopf rausholt.
Westafrikanische Folk-Melodien treffen auf South London Jazz – und irgendwo dazwischen entsteht dieser Raum, in dem Langeweile nicht aufkommt. Weil du einfach da bist.
Der Track ist wie ein Reset-Knopf für überdrehte Gedanken.
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Hör das, wenn: dein Kopf vom Büro noch qualmt und du dich nach Meeresrauschen sehnst.
Für das Innehalten | Deep Listening & meditation
James Heather – Beginnings
Manchmal braucht es einen Verlust, um Neuanfänge zu verstehen.
James Heather schrieb dieses Piano-Stück während des Lockdowns, kurz nach dem Tod seines Vaters. Das hört man – aber nicht als Traurigkeit, sondern als stille Hoffnung. Der Song ist auf einem über hundert Jahre alten Bösendorfer-Flügel eingefangen. Ein einziger Take, ohne Metronom, ohne Netz. Pure Intuition.
Der Track fühlt sich an wie der erste Atemzug nach einem langen Tauchen. Heather nennt es selbst eine Meditation über „emerging from the fog“ – aus dem Nebel herauskommen und den Mut finden, neu anzufangen.
Und manchmal braucht es auch erst mal ein wenig Langeweile, um festzustellen, wo und wie man neu beginnen soll. Dieser Song erinnert mich daran.
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Hör das, wenn: du dich beim Nachhausekommen erst mal auf die Couch legst, um ein paar Minuten durchzuschnaufen.
Für eine Zeitreise | Vintage Vibes
Claire Martin, Kenny Barron – Lazy Afternoon
1954 schrieb Jerome Moross diesen Song für ein Broadway-Musical, das nach 125 Vorstellungen floppte. Der Song? Hat überlebt. Über 400 Mal gecovert, von John Coltrane bis Barbra Streisand.
Claire Martins 2012er Version mit Kenny Barron am Piano ist pure Seidigkeit. Ihre Stimme – cool, aber nicht kalt, elegant ohne Angeberei. Der Text malt faule Nachmittage: Käfer summen, Tulpen blühen, keine anderen Menschen weit und breit. Langeweile als Luxus.
Der Track macht aus Nichtstun eine Kunstform. Kein schlechtes Gewissen, keine Produktivitäts-Panik. Nur dieses entspannte Jazz-Nicken, während Kenny Barrons Piano durch den Raum schwebt wie Zigarettenrauch in einer alten Bar.
Dieser Song ist der Gegenbeweis zu „Langeweile ist ätzend“.
Oder hör auf YouTube | YouTube Music
Hör das, wenn: du realisierst, dass du heute sauber abgeliefert hast und jetzt endlich mal entspannen kannst.
Für den Horizont | Allerweltsmusik
Chico Buarque – Cotidiano
“Todo dia ela faz tudo sempre igual” – Jeden Tag macht sie alles gleich. Und wieder. Und wieder.
Chico Buarques 1971er Song ist eine musikalische Studie über Routine. Die Melodie? Wiederholt sich ständig. Der Text? Beschreibt denselben Tag in Endlosschleife. Morgens: Kuss mit Minz-Mund. Mittags: Bohnen essen und schweigen. Abends: ein wenig routinierte Leidenschaft. Und der Protagonist? Denkt nur: “Ich will aufhören” – aber sagt nichts. “E me calo” – Und ich schweige.
Geschrieben unter brasilianischer Militärdiktatur, funktioniert der Song auf zwei Ebenen: als Paar-Porträt und als Metapher für Leben unter Repression. Die bluesy Trombone klingt deprimiert, aber die Schönheit der Komposition ist unwiderstehlich. Langeweile als Gefängnis – oder als Komfortzone?
Manchmal ist Routine erstickend und tröstlich zugleich. Chico macht aus diesem Widerspruch Poesie.
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Hör das, wenn: dein Kopf dringend einen Kurzurlaub an der Copacabana benötigt.
Für den Flow | Global Groove
Huw Marc Bennett – In My Craft
Wales trifft London trifft Westafrika trifft Dylan Thomas. Klingt verkopft? Ist es nicht.
Der walisische Bassist Huw Marc Bennett hat diesen Track mit der South London Jazz-Elite aufgenommen – und später mit Overdubs veredelt. Das Ergebnis: ein warmer Gitarren-Riff, Highlife-Percussion-Patterns und Miryam Solomons liebliche Stimme.
Der Track balanciert zwischen entspannt und aktivierend. Er fordert dich nicht, aber lädt dich zum Mitwippen ein. Dylan Thomas’ Gedicht im Hintergrund – über Kunst um der Kunst willen, nicht fürs Geld – gibt dem Ganzen eine melancholische Ehrlichkeit.
Langeweile? Hier nicht. Das ist Musik, die den Nachmittag in Bewegung bringt, ohne anzustrengen
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Hör das, wenn: du Energie brauchst, aber keine Hektik verträgst – perfekt für aufräumen, kochen oder einfach nur Kopfnicken.
Es würde mich freuen, wenn der ein oder andere Song dir ein paar Minuten wohlverdiente Auszeit ermöglicht und dich bei deinem Feierabend, wie immer er auch aussehen mag, unterstützt. Falls ein Song besonders gut passt, bin ich gespannt darauf zu hören, in welchem Moment, in welcher Stimmung er dich gefangen hat.
Und wenn dir gefällt, was du liest und hörst, freue ich mich darüber, wenn du TAoMF abonnierst und mit einer Weiterempfehlung honorierst.
In diesem Sinne: Schönen Feierabend.
Claas




Dein Text kommt bei mir gerade genau zur richtigen Zeit! Ich habe erst Anfang dieser Woche wieder gemerkt, dass ich mein Gehirn mit meinem Handy mit zu viel künstlichen Dopamin füttere und mir auch als Ziel gesetzt, mich wieder aktiv mehr zu langweilen. So viel leichter gesagt als getan, aber dein Text hat mir jetzt nochmal extra Motivation geschenkt – danke dafür!