Wissen wollen vs. scrollen – wer gewinnt?
Deep Dive zum Thema des Monats: Neugier – über hyperaktive Welpen, digitale Lockmittel und das Glück, tiefer zu graben.
Audioversion:
Neugier als Feierabendsuperkraft? Genau darum geht’s diesen Monat bei The Art of Making Feierabend. Dieser Deep Dive ist der tiefergehende zweite Teil. Als Warm-up empfehle ich die vorangegangene Radiosendung, damit du gut ins Thema groovst!
Not being satisfied is what makes curiosity so satisfying.
Ian Leslie
Wir leben in einer Zeit, in der wir noch nie so sehr in der Lage waren, an Informationen zu gelangen wie je zuvor. Wie kam es denn also bitte dazu, dass ich vor ein paar Wochen festgestellt habe, dass ich noch nie so wenig neugierig gewesen bin?
Die vormals vorhandene Lust und Laune, neue Dinge zu entdecken und mich z. B. auch tief in einen Kaninchenbau voller Informationen zu stürzen, war vergangen. Nicht, dass ich aufgehört hätte, mich im Internet herumzutreiben oder gar zu existieren. Aber anstatt meiner Neugier in tiefe Details und verborgene Facetten zu folgen, war ich bloß zum Konsumenten mutiert. Zombie-Mode: On!
Um hier aber genau zu sein: Meine Neugier war nicht weg. Ich hatte nur diese eine Form von Neugier durch eine andere ersetzt.
Von Ablenkung bis Erkenntnis – Wie sich Neugier entfaltet
Neugier kann als ein komplexes Phänomen, das sich aus mehreren kognitiven, emotionalen und sozialen Prozessen zusammensetzt, beschrieben werden. Aufgrund dieses Facettenreichtums ist sie nicht mit einfachen Worten zu definieren. Aber ich würde sie als etwas beschreiben, das Intelligenz, Ausdauer und Hunger nach Neuem in sich vereint. Sie lässt uns Risiken eingehen, aus Fehlern zu lernen und Fragen zu stellen.
Curiosity is the sweetest form of dissatisfaction. Ian Leslie
Neugier ist komplex. Und das ist so, weil wir komplexe Wesen sind. Evolutionär betrachtet ist Neugier ein angeborenes Verhalten, das sich aufgrund seiner Vorteile für Überleben und Fortpflanzung durchgesetzt hat. Ohne Neugier hätten sich unsere Vorfahren nicht aus der Höhle getraut, um nach neuen Nahrungsquellen zu suchen. Auch wenn mit Sicherheit ein paar wohl beim Versuch, neue Beeren zu kosten, kläglich aufgrund ihrer Giftigkeit dahingerafft wurden. Und ohne Neugier hätte man auch nie herausgefunden, dass die Mondlandung nur Fake war … Moment … was? Spaß beiseite. ;-)
Die Flamme der Neugierde brennt nicht in einem Vakuum
Neugier entsteht vor allem dann, wenn wir eine Kluft (Information gap) feststellen, zwischen dem, was wir wissen und etwas, das wir bisher nicht wissen. Sie setzt ein gewisses Maß an Wissen über ein Thema voraus. Ohne Vorwissen können wir die Information nicht einordnen. Das Wissen darf jedoch auch nicht zu umfassend sein. Dann erscheint die Information womöglich als zu langweilig.
Die Wissenschaft unterteilt Neugier in viele verschiedene Formen und Arten. Keine Angst, ich werde jetzt nicht anfangen, sie aufzuzählen. Aber weil es für das grundlegende Verständnis und weitere Schlussfolgerungen wichtig ist … mache ich es dennoch. (Jetzt Spaß aber wirklich beiseite!)
Der Unterschied zwischen Tiefgang und Ablenkung
Die verschiedenen Varianten unterscheiden sich durch bestimmte Merkmale, von welchem Ziel sie getrieben, wodurch sie ausgelöst werden oder auch nach gewissen Situationen, in denen sie vorkommen. Dabei sind die “epistemische” und “diversive” Neugier jene welche, auf die ich im Folgenden das Hauptaugenmerk legen möchte.
Die epistemische Neugierde ist die Form, die ich mir sehnlichst zurück erhoffte, als mir bewusst geworden war, dass ich sie beinahe verloren hatte. In ihr liegt tiefer Wissensdrang und langfristiges Lernen begründet.
Ein Freund erwähnt den Fachbegriff “tanninreich” auf einer Party, zwei Wochen später hast du dazu 3 Bücher und zwei Dokus geschaut, dich für ein Weintasting angemeldet und erklärst deinem Freund bei der nächsten Gelegenheit, warum Bordeaux-Weine aus dem linken Ufer strenger schmecken.
Sie treibt uns an, Ungewissheiten zu klären und Ordnung in unsere Umwelt zu bringen. Sie hilft uns, kognitive Konflikte zu überwinden und unterstützt kreative Denkprozesse.
Und dann gibt es die diversive Neugier. Sie ist wie ein hyperaktiver Welpe im Kopf: leicht ablenkbar, schnell begeistert und miserabel darin, irgendwo sitzenzubleiben.
Du googelst “Wetter morgen Hamburg“, aber eine Stunde später weißt du alles über Vulkanausbrüche auf Island, hast dich über mittelalterliche Wetterregeln belesen und fragst dich plötzlich, ob man als Meteorologe eigentlich gut verdient.
Neurobiologisch betrachtet aktiviert diversive Neugier vor allem das Belohnungssystem durch die Ausschüttung von Dopamin. Anders als epistemische Neugier, die auf Wissenslücken fokussiert ist, sucht sie schlichtweg nach kognitiver Stimulation. Sie will nicht unbedingt verstehen, sondern einfach was Neues erleben.
Sie zeigt sich laut Studien vor allem dann, wenn unser Gehirn unterfordert ist, z.B. durch Reizarmut oder Langeweile. An dieser Stelle wird jetzt spannend. Man müsste meinen, dass im digitalen Zeitalter so etwas wie Langeweile und Reizarmut nicht mehr vorkommt. Ständig haben wir Sound auf den Ohren und schnell wechselnde Bilder und Videos vor den Augen. Doch nur weil viel um uns herum passiert, muss es nicht heißen, dass dies bedeutsam oder gar emotional lohnend ist.
Besonders in sozialen Medien sind Reize meist flüchtig und oberflächlich und stimulieren uns selten in emotionaler Tiefe oder bieten uns intellektuelle Befriedigung.
Diese Informationshäppchen sind wie Fast-Food für den Geist: sättigt kurz, macht aber nicht satt. Kleine Reize und Belohnungen triggern jedoch immer wieder unser Belohnungssystem: Likes, Push-Benachrichtigungen, sogar die Farbwahl “rot“ des Punktes bei ungelesenen Nachrichten sorgt für einen neuen Impuls, den unsere Aufmerksamkeit nachjagen möchte.
Je häufiger diese Dopamin-Kicks, desto unruhiger wird unser Gehirn. Und so kommt es bei all der Überstimulation zu einer kognitiven Leere, die immer und immer wieder die diversive Neugier fördert. Ein Feedback-Loop, nur eben in schlecht.
Reclaim curiosity!
Ja, das klingt kämpferisch. Und das muss es auch. Denn das digitale Leben hat, neben all seinen Vorteilen, die es uns gebracht hat, uns auch in einen ständigen Kampf um unsere Aufmerksamkeit geführt. Denn in einer Welt, in der verfügbare Informationen gen unendlich zeigen, ist es unsere begrenzte Aufmerksamkeit der Goldstaub, den die Attention Economy nachjagt. Und das durchaus erfolgreich. Denn das psychologische Verständnis, wie unsere Neugierde getriggert und, zumindest kurzfristig, befriedigt werden kann, ist zu einer Schlüsselkompetenz für unternehmerisches Handeln im digitalen Zeitalter geworden.
In diesem Kampf heißt es also nicht bloß, kenne deinen Feind. Vielmehr ist es wichtig, dass wir uns in diesem Fall zurück in die Lage versetzen, uns selbst zu kennen. Folgende Fragen können uns dabei helfen, uns neu zu kalibrieren:
Was sind die Muster, die meine Neugierde triggern?
War das gerade wirklich nützlich oder wurde ich manipuliert?
Wähle ich gerade selbst, worauf ich neugierig bin oder folge ich nur einer Routine?
Interagiere ich gerade aktiv mit diesen Informationen oder konsumiere ich sie nur passiv?
Was war mein ursprünglicher Impuls, bevor ich mich in dieser App oder auf dieser Plattform verloren habe?
Wurde mein Verhalten in den letzten Minuten durch externe Reize (Benachrichtigungen, Empfehlungen) oder durch eigene Entscheidungen gesteuert?
From Attention Economy to Curiosity Cultivation
Ja, wir leben in einer schnellen Welt. Und so scheint es, dass auch wir stets möglichst schnell sein, schnell denken, schnell handeln müssen. Aber sollten wir nicht vor allem klug handeln können? Wenn man dieser These folgt, gewinnt epistemische Neugier an Bedeutung. Besonders, wenn es immer verlockender klingt, eine mutmaßlich schwierige Aufgabe einer KI zu überlassen. Unsere Neugierde wieder neu zu entdecken, sie zu kultivieren, ihr freudig nachzujagen ist nicht nur ein Akt des Widerstands, sondern womöglich auch eine essenzielle Notwendigkeit für einen farbenfrohen, erfüllenden Feierabend.
Vorschau: Neugier als After-Work-Ritual: Weniger Ablenkung, mehr Erfüllung
In der nächsten Ausgabe meines Newsletters am 18.4. schauen wir uns genau das an: Wie wir der verführerischen Sogwirkung der diversiven Neugier entkommen – und stattdessen unsere epistemische Neugier wieder erwecken können. Mit konkreten Beispielen, alltagstauglichen Tipps und einer Prise Tiefgang.
Oder anders gesagt: weniger Swipe, mehr Tiefgang.
Erzähle mir von deinen “Random acts of curiosity”
Bevor du nun aber voller Neugier in deinen wohlverdienten Feierabend gleitest, möchte ich meine Neugierde noch stillen. Ein paar zum Schmunzeln bringende Beispiele für “Random curiosity” habe ich dir ja schon gegeben. Aber was sind deine? Wo bist du neugierig, wo du es nicht sein solltest? Wo trägt dich deine Neugier voller Freude davon, obwohl du weißt, dass ihr zu folgen kompletter Blödsinn ist? Erzähl mir vom letzten Rabbit Hole, in das du gefallen bist, vom dir peinlichen Moment, als du deinen Nachbarn nachspioniert oder du diesen roten “Nicht drücken”-Knopf gedrückt hast.
Ich freue mich auf ein paar spannende Einblicke in den Kommentaren, als Mail oder hier direkt im Chat:
Das von meiner Seite.
Freundlichste Grüße und einen schönen Feierabend.
Claas
PS: Buchempfehlung: Curious: The Desire to Know and Why Your Future Depends On It von Ian Leslie
PPS: TED Talk von Yara Shahidi: Let Curiosity Lead