Soundletter: Fünf Songs für fünf Feierabende - Woche 52
Dream Pop aus Maryland, Vodun-Rhythmen aus Benin und Jazz-Remix für die Ewigkeit. Von Cotton Jones über Max Roach bis zum Bonobo-Remix von Henri Texier. Dein Feierabend-Soundtrack.
Hallöchen und schönen Feierabend! Ich bin Claas und ich glaube an die Magie von Musik. Jede Woche teile ich 5 handverlesene Songs, die mich auf ihre besondere Art und Weise berührt, beeinflusst oder beschäftigt haben. In der Hoffnung, dass ein wenig ihrer Magie auf die überspringt.
Wohlmöglich erwartest du nun passend zur Weihnachtswoche auch eine Auswahl passend für den Weihnachtsbaum. Aber leider muss ich dich da enttäuschen. Ich habe ein paar Stunden damit aufgewendet, nach besonderen, aber in unseren Graden unbekannten Weihnachtssongs zu suchen. Die Klassiker kamen mir zu plump und langweilig vor.
Für jemanden, der dem Weihnachtssetting nur wenig abgewinnen kann (ja, ich war mal als Grinch verkleidet und hab die Rolle gefühlt!), durchaus eine Herausforderung. Zugegeben, ich habe auch ein paar Lieder von sonstwoher gefunden. Aber beim ehrlichen In-mich-Hineinhören habe ich festgestellt, dass ich dir keine Songs an die Hand bzw. ins Ohr geben möchte, die ich nicht auch selbst gerne höre.
Anstelle dessen schenke ich dir wieder einen Prompt zum achtsamen Musikhören. Wende ihn auf einen der 5 Tracks für 5 Feierabende oder auch ein Weihnachtslied an. Ich glaube, besonders bei schon oft gehörten Liedern, kann dich dieser Prompt dazu verleiten, einen Song noch einmal mit ganz neuen Ohren zu hören.
Soundflip der Woche
Ein Song ist nicht nur ein Song. Je nachdem an welchem Ort, zu welcher Zeit, mit welcher Stimmung du ihn hörst, kann er sich und seine Bedeutung verändern. Der Soundflip lädt dich ein, weitere Facetten zu erkunden, neue Blickwinkel zu wagen, und schickt deine Ohren auf unbekannte Pfade.
Nimm einen Song, der dir spontan in den Kopf kommt, oder einen von den 5 unten, und höre bewusst und aufmerksam. Weil Musik zu schön ist, um sie nur nebenbei zu hören!
Für wen würdest du diesen Song als Geschenk weitergeben und warum? An wen könnte der/die InterpretIn dieses Geschenk gemacht haben?
5 Tracks sind dir nicht genug? Hier geht’s zur letzten Radiosendung, vollgepackt mit handverlesener Musik für deinen Feierabend.
5 Songs für 5 Feierabende
Jeder Feierabend ist einzigartig. Dies ist mein Versuch, dieses Spektrum durch musikalische Hinter- oder Vordergrundbeschallung zu supporten. Jede Woche 5 Tracks für die Facetten deines Feierabends.
Für den Übergang | Different Styles of Smoothness
COTTON JONES – I AM THE CHANGER
Dream Pop mit psychedelischen Folk-Elementen, der sich anfühlt wie eine Mischung aus Lee Hazlewood und Yo La Tengo in ihrer ruhigsten Phase.
Cotton Jones – das war das Projekt von Michael Nau, nachdem er 2008 seine Band Page France aufgelöst hatte. Der Grund: Die religiösen Themen seiner Songs wurden von christlichen Kreisen vereinnahmt, und das wurde ihm zunehmend unbequem. Also Neustart. Mit seiner damaligen Frau Whitney McGraw zog er sich nach Cumberland, Maryland, zurück – eine kleine Stadt, deren düstere, ländliche Atmosphäre das gesamte Album „Paranoid Cocoon“ prägt.
Die Entstehung war ungeplant, fast zufällig. Nau selbst sagte: „Es gab kein intentionales Thema hinter diesen Songs. Die Lyrics funktionieren wie Bilder von Stimmungen.“ Das hört man. Alles hier ist Textur, Atmosphäre, hypnotische Orgel- und Gitarrenmuster, die sich ineinander verweben.
Der Clou am Text: Der Sänger behauptet, „der Changer“ zu sein – derjenige, der Veränderung bringt. Aber die eigentliche Botschaft ist eine des passiven Wartens. „Everything has turned around / Been waiting for a little change / And when it finally came / I just waited for another.“ Eine ehrliche kleine Paradoxie für alle, die sich manchmal dabei ertappen, immer auf das Nächste zu warten, statt im Jetzt anzukommen.
Das Album erlebte 2019 übrigens eine Zehn-Jahres-Neuveröffentlichung – für eine erst scheinbar übersehene Indie-Platte ungewöhnlich. Retrospektiv wird es als Klassiker des späten 2000er-Indie-Folk behandelt.
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Hör das, wenn: du merkst, dass du gedanklich schon bei morgen bist, obwohl heute noch gar nicht richtig angefangen hat.
Für das Innehalten | Deep listening & meditation
LAURIE TORRES – LISIÈRE
Das französische Wort „Lisière“ bedeutet Waldrand – dieser Schwellenraum, wo Vertrautes auf Unbekanntes trifft. Ein passender Titel für einen Track, der selbst ein Übergang ist: zwischen Genres, zwischen Karrierephasen, zwischen Stille und Klang.
Laurie Torres ist eigentlich Schlagzeugerin. Über 15 Jahre tourte sie mit Acts wie Julia Jacklin und Pomme, spielte in ausverkauften Hallen wie dem Londoner Roundhouse. Ihr Hauptinstrument war immer das Drumkit. Dass ihr Solo-Debüt jetzt von Klavier dominiert wird, ist ein bewusster Bruch – eine Rückkehr zu ihren frühesten musikalischen Wurzeln, bevor sie als Elfjährige zum Schlagzeug wechselte.
Im März 2023, zwischen Tourneen, zog sie sich ins Studio Wild zurück – einen Aufnahmeort direkt am See in Quebec, etwa 130 Kilometer nördlich von Montréal. Dort nahm sie spontane Klavierimprovisationen auf, schichtete Flöten und Orgeln darüber, unterlegte alles mit einem herzschlagähnlichen Bass. Das Ergebnis klingt wie Philip Glass, nur wärmer. Wie Tirzah, nur ruhiger.
Torres beschreibt ihren Ansatz so: „I had an urge to use creativity as a sort of resting place, a place where things can unfold slowly.“ Kreativität als Ruheplatz. Das hört man in jeder der zweieinhalb Minuten.
Die Künstlerin identifiziert sich offen als queere, schwarze Musikerin – eine Identität, die sie als gleichzeitig belastend und antreibend beschreibt. Vor den Aufnahmen verbrachte sie Zeit in einer Künstlerresidenz in Island, in einer ehemaligen Fischfabrik. Die kargen Landschaften dort und in Quebec spiegeln sich in der reduzierten Ästhetik.
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Hör das, wenn: du nach dem Duschen noch fünf Minuten im Handtuch auf der Bettkante sitzt und merkst, wie gut das tut.
Für die Zeitreise | Vintage Vibes
MAX ROACH – LONESOME LOVER
Februar 1962, Fine Recording Studio, Manhattan. Ein ehemaliger Hotelsaal mit originaler Tiffany-Glasdecke und außergewöhnlicher Akustik. Hier entsteht eine sieben Minuten lange Jazz-Ballade, die mehr dokumentiert als nur Musik.
Max Roach – der Mann, der gemeinsam mit Kenny Clarke das Jazz-Schlagzeug revolutionierte, den rhythmischen Puls von der Bassdrum aufs Ride-Becken verlegte und Drummer von reinen Taktgebern zu gleichwertigen Improvisatoren erhob – nimmt mit Abbey Lincoln auf. Seiner Partnerin. Die beiden werden im selben Jahr heiraten.
Das Album „It’s Time“ ist politisch aufgeladen. Es ist der dritte Teil von Roachs inoffizieller Civil-Rights-Trilogie, der Titel ein unmissverständlicher Aufruf zur Gleichberechtigung während der Hochphase der Bürgerrechtsbewegung. Aber „Lonesome Lover“ ist der einzige Track, auf dem Lincoln ihre Stimme erhebt – und gleichzeitig der intimste des gesamten Albums. Hier nimmt der „Rhythmatist“ seine Stöcke zugunsten einer Liebesgeschichte zurück. Kritiker beschreiben Lincolns Darbietung als „hauntingly beautiful“ und zählen sie zu den besten in der Vokal-Jazz-Geschichte.
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Hör das, wenn: du alte Fotoalben durchblätterst und plötzlich bei einem Bild hängenbleibst, das du schon hundertmal gesehen hast.
Für den Horizont | Allerweltsmusik
ORCHESTRE POLY-RYTHMO DE COTONOU – MIN WE TUN SO
Benin, frühe 1970er Jahre. Militärdiktatur unter Mathieu Kérékou. 23-Uhr-Ausgangssperre. Wenn ein Club das Radio nicht für die zweistündigen Regierungsansprachen einschaltete, wurde er geschlossen. „Die Leute wollten lieber James Brown hören“, erinnert sich Sänger Vincent Ahéhéhinnou. „Also wurden sie geschlossen.”
In dieser Atmosphäre nahm Orchestre Poly-Rythmo zwischen 1970 und 1983 rund 500 Songs auf. Die Band – von The Guardian als „eine der besten Tanzbands Westafrikas“ bezeichnet – verschmolz sakrale Vodun-Rhythmen mit amerikanischem Funk. Bandleader Mélomé Clément erklärt: „Trommeln, Glocken und Hörner sind die fundamentalen Instrumente unserer traditionellen Vodun-Rituale – wir fügten Gitarren und Orgeln hinzu.“
„Min We Tun So“ ist eine Ballade, gesungen von Lohento Eskill (1951–2006). Die Lyrics sind philosophisch: Wer kennt die Geschichte des Lebens? Wer weiß, was morgen passiert? Wenn du Geld hast, ist das kein Grund, stolz zu sein. Während das Regime Christentum und Islam unterdrückte, blieben die Vodun-Schreine unangetastet – diese Musik ist kulturelles Überleben in Echtzeit.
Die Original-7” erschien beim Label Albarika Store in Auflagen von wenigen hundert Stück. Analog-Africa-Gründer Samy Ben Redjeb brauchte über 25 Jahre, um diese Schätze wiederzufinden – er durchkämmte Benin, Togo und Niger, sammelte rund 100 Fotografien, 120 Masterbänder, führte über 20 Stunden Interviews. Die Reissue-Version dehnt den Track auf über 11 Minuten.
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Hör das, wenn: du im Winter am Fenster stehst und dir vorstellst, wie sich Wärme auf der Haut anfühlt.
Für den Flow | Global Groove
HENRI TEXIER – LES LÀ-BAS (BONOBO REMIX)
Der französische Jazz-Bassist Henri Texier wagt 1977 ein Experiment: Er nimmt ein Album als Ein-Mann-Orchester auf. Mit einem Revox-Bandgerät überspielt er Schicht für Schicht – Kontrabass, Fender Bass, Oud (arabische Laute), Querflöte, Bombarde (ein bretonisches Blasinstrument), Perkussion und seine eigene Stimme. Das Ergebnis: „Varech“ – ein Album, das Jazz mit keltischen, afrikanischen, indischen und nahöstlichen Elementen verschmilzt, Jahre bevor „World Music“ zum Marketingbegriff wurde.
„Les Là-Bas“ – „Die Dort-Drüben“ oder „Jene fernen Orte“ – besteht aus hypnotischen Vokalschleifen ohne erkennbare Worte und einem treibenden Bass. Drei Minuten, die als „psych-tinged folk-jazz track“ beschrieben worden sind.
35 Jahre später entdeckt Simon Green – besser bekannt als Bonobo – den Track beim Crate-Diggen. In einem Interview erklärt er seinen Ansatz: „If I’m sampling from vinyl, I’m going to the avant garde free jazz section... looking for atmospheric elements.“ Er verwandelt die drei Minuten in fünf Minuten Jazz-House für den Dancefloor, testet den Remix in seiner DJ-Residency im Output Club Brooklyn, bevor er ihn 2016 als limitierte Record-Store-Day-Pressung veröffentlicht. 1.500 Exemplare, sofort weg.
Das Original ist heute ein gesuchtes Sammlerstück – Medianpreis auf Discogs über 200 Dollar. Texier selbst, mittlerweile 79 Jahre alt, erkannte den Remix als Bestätigung seiner musikalischen Vision an. Zwei Generationen, ein Groove. Der französische Free-Jazz-Pionier und der britische Elektronik-Produzent fanden zueinander, ohne sich je getroffen zu haben.
Die B-Seite der Remix-Single enthält übrigens das Texier-Original von 1977 – eine elegante Brücke zwischen beiden Welten.
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Hör das, wenn: du beim Aufräumen in einen Zustand gerätst, in dem alles fließt und du plötzlich auch noch die Fenster putzt, obwohl das gar nicht geplant war.
Das war es wieder für diese Woche! Es würde mich freuen, wenn der ein oder andere Song dir ein paar Minuten wohlverdiente Auszeit ermöglicht und dich bei deinem Feierabend, wie immer er auch aussehen mag, unterstützt. Falls ein Song besonders gut passt, bin ich gespannt darauf zu hören, in welchem Moment, in welcher Stimmung er dich gefangen hat.
Und wenn dir gefällt, was du liest und hörst, freue ich mich darüber, wenn du TAoMF abonnierst und mit einer Weiterempfehlung honorierst.
In diesem Sinne: Schönen Feierabend.
Claas-Hendrik Berg


