Filterworld, Feierabend, Fokus – Eine Expedition ins Aufmerksamkeitszeitalter
Deep Dive in unsere Aufmerksamkeit: über kognitiven Wandel, Reizüberforderung, Mediennutzung & abflachende Algorithmen.
Nach der Auftakt-Radiosendung folgt heute der Deep Dive ins Thema mit Überblick über die wichtigsten Aspekte dieses Themas.
Als Extra: Master-Prompt für Wissenshungrige zum noch tiefer einsteigen!
‘You will never be efficient enough to hear/do/read it all before you’re gone.’ unkown
Wir leben in einer Welt, die unsere Aufmerksamkeit permanent herausfordert. Und meist bekommt sie nicht, was sie verdient – sondern, was am lautesten ruft. Das hat nicht nur Folgen für unsere Mediennutzung, sondern für unseren Alltag, unsere Beziehungen, unsere Fähigkeit zur Erholung und Selbstbestimmung. Besonders im Feierabend, wenn der Kopf noch voll ist, obwohl der Bildschirm längst aus ist.
Aufmerksamkeit ist kein Zustand, sie ist ein Prozess. Sie ist das, was zwischen Reiz und Reaktion liegt – und manchmal auch dazwischenkommt. Kognitionswissenschaftlich betrachtet ist Aufmerksamkeit die Fähigkeit, sensorische, emotionale oder kognitive Ressourcen selektiv auf bestimmte Informationen zu lenken – und dabei andere Reize auszublenden.
Klingt theoretisch? Ist aber hochpraktisch. Ohne Aufmerksamkeit gäbe es keine Orientierung, kein Lernen, keine Kommunikation. Sie ist das Tor zu allem anderen – was wir sehen, denken, erinnern, verstehen. Doch genau dieses Tor ist eng – und störanfällig.
Drei Systeme, ein Ziel: Ordnung im Reizchaos
Wenn es um Aufmerksamkeit geht, begegnen uns zwei Perspektiven:
Endogene Aufmerksamkeit – das bewusste, zielgerichtete Steuern unseres Fokus.
Exogene Aufmerksamkeit – die automatische Reaktion auf plötzliche Reize.
Oder einfacher:
Endogen ist, wenn du entscheidest, worauf du dich konzentrierst.
Exogen ist, wenn etwas anderes für dich entscheidet.
In der Kognitionspsychologie beschreibt das Modell von Posner drei Netzwerke, die unsere Aufmerksamkeit koordinieren – wie ein Trio aus Aufmerksamkeits-Gatekeepern:
Alerting-System
Hält dich wach und reaktionsbereit. Es bereitet dich auf Reize vor – besonders auf Unerwartete. Wird stark durch exogene Reize aktiviert (z. B. Notifications oder plötzliche Geräusche).Orienting-System
Richtet deine Aufmerksamkeit aus – räumlich, visuell oder auditiv. Es ist sozusagen das „Lenkrad“ deiner Aufmerksamkeit.
➤ Spannend: Dieses System kann sowohl exogen (reaktiv) als auch endogen (zielgerichtet) gesteuert werden.Executive Control System
Ist dein innerer Fokus-Coach. Es unterdrückt Ablenkung, priorisiert Aufgaben und hilft dir, konzentriert zu bleiben – vor allem bei komplexen oder konflikthaften Situationen.
➤ Eng verknüpft mit der endogenen Aufmerksamkeit.
In Summe:
Exogene Reize (z. B. Push-Nachrichten) aktivieren primär das Alerting- und teils das Orienting-System.
Endogene Steuerung (z. B. bewusstes Lesen, aktives Zuhören) beansprucht besonders das Orienting- und das Executive-System.
Was dabei oft passiert: Die exogenen Systeme (Alerting & Orienting) laufen im Dauerbetrieb – während unser Executive-System längst Feierabend machen will.
Der Andersmacher:
In dieser Sektion geht es um kleine Übungen, Spiele und Gedanken, die den Alltag etwas spannender machen. Es geht darum, auch auf oft begangenen Wegen Neues zu entdecken.
Sag für einen Abend „Ja“ zu Langeweile.
➤ Setz dich für 20 Minuten aufs Sofa – ohne Plan, ohne Ziel. Wenn der Drang zur Ablenkung kommt: Beobachten. Nicht reagieren.
Willkommen in der Aufmerksamkeitsökonomie – wo du nicht mehr entscheidest, was du wahrnimmst
Die digitale Infrastruktur, in der wir uns täglich bewegen, ist nicht neutral. Sie wurde gestaltet – von Menschen, die ein tiefes Verständnis dafür haben, wie unser Aufmerksamkeits- und Belohnungssystem funktioniert.
„Our mind is being trained, but just not by us. From an economy that lives from distractions.“
Cal Newport
Diese Wirtschaft basiert nicht auf Produkten, sondern auf Aufmerksamkeit, auf Verweildauer. Je länger du scrollst, klickst, schaust, desto mehr Werbefläche kann verkauft werden. Der Inhalt ist dabei fast nebensächlich – entscheidend ist die Zeit, die du investierst.
Stichwort:
Persuasive Design, oder: Wie digitale Oberflächen unser Verhalten formen
Es ist die Kunst, psychologische Erkenntnisse gezielt einzusetzen, um Nutzerverhalten zu steuern – ohne dass wir es bewusst merken. Es geht dabei nicht um bloße Benutzerfreundlichkeit, sondern um Verhaltenslenkung im Sinne der Plattformbetreiber.
Wir begegnen diesen Prinzipien täglich:
➤ Benachrichtigungs-Badges in Rot (Farbe für Dringlichkeit),
➤ Endlosscrollen ohne natürlichen Stopp,
➤ Belohnungssignale wie Likes, Herzchen, Matches – jedes Mal ein kleiner Dopamin-Kick.
Auch „Near-miss“-Mechaniken (z. B. bei Dating-Apps) oder das gezielte Erzeugen von FOMO (Fear of Missing Out) gehören dazu. ] Hier findest du eine umfassende Sammlung an “Dark patterns”.
Der Begriff wurde durch B. J. Fogg (Stanford University) geprägt, dessen „Behavior Design Lab“ unter anderem Facebook-Gründer geschult hat. Das Ziel: Gewohnheiten erzeugen, nicht nur einmalige Nutzung.
Persuasive Design nutzt unsere kognitiven Schwächen – z. B. Entscheidungsmüdigkeit, Belohnungssucht oder soziale Vergleichstendenzen – systematisch aus. Und das mit beeindruckender Effektivität.
Wir glauben, wir navigieren durch Inhalte.
In Wahrheit navigieren Inhalte durch uns.
Unsere digitale Mediennutzung bewegt sich meist zwischen zwei Polen: aktiv steuernd (Lean-in) oder passiv empfangend (Lean-back). Während wir bei Lean-in bewusst entscheiden, was wir konsumieren – etwa beim gezielten Lesen oder Recherchieren – lassen wir uns im Lean-back-Modus treiben: Musik läuft im Hintergrund, Videos starten automatisch, Inhalte folgen Vorschlägen.
Diese Passivität ist kein Zufall. Sie wird gezielt erzeugt – durch reduzierte Auswahloptionen, Empfehlungen, Endlosfeeds. Studien zeigen: Wer weniger entscheiden muss, bleibt länger. Und liefert damit mehr Daten, mehr Werbewert, mehr Aufmerksamkeit.
Dopamin, Design und „the Magic of Maybe“
Die Wirkung dieser Designs ist nicht nur psychologisch clever, sondern auch neurobiologisch wirksam.
Denn mit jeder Notification, jedem Like, jeder unerwarteten Empfehlung wird Dopamin ausgeschüttet – unser körpereigener Motivationsbooster. Besonders effektiv: intermittierende Belohnung.
Wie beim Glücksspiel folgt auf die Handlung manchmal eine Belohnung – nicht immer, nicht vorhersehbar.
Das hält das Belohnungssystem aktiv. Und uns im Spiel.
Doch: Dauerreizung führt zur Abnutzung. Studien sprechen von Dopamin-Dysregulation – die Folge sind Abstumpfung, Reizsuche, digitale Rastlosigkeit.
Und während das Scrollen weiterläuft, wird der Feierabend zunehmend gefühlt – aber nicht erlebt.
Kontextkollaps & Switching Costs: Wenn digitale Räume Aufmerksamkeit zerlegen
Einige weitere Phänomene greifen im digitalen Raum ineinander wie Zahnräder eines Aufmerksamkeitsmotors – nur leider in Richtung Überlastung:
Kontextkollaps beschreibt die Entgrenzung sozialer Räume im Netz: Wo früher verschiedene Lebensbereiche klar getrennt waren – Familie, Job, Freundeskreis –, vermischt sich heute alles in einem einzigen digitalen Feed. Eine Story, ein Post, ein Kommentar – sichtbar für alle, entkoppelt vom ursprünglichen Kontext. Die Folge: Selbstpräsentation wird vorsichtiger, Inhalte generischer, Aufmerksamkeit flacher.
Und: Je mehr soziale Rollen gleichzeitig adressiert werden müssen, desto mehr kognitive Ressourcen fließen ins Sortieren, Filtern, Abwägen.
Ein in diesem Zusammenhang ebenfalls relevanter werdender Begriff ist außerdem Polyconsciousness: ein Zustand geteilter Präsenz zwischen physischer Realität und digitalen Reizen. Du sitzt mit einer Freundin beim Abendessen – aber dein Daumen zuckt zum Handy, weil sich dein Gehirn an das Dopamin in der anderen Welt erinnert. Du bist da – und auch nicht.
Switching Costs wiederum benennen die mentale Reibung, die entsteht, wenn wir ständig zwischen Aufgaben, Tabs, Apps und Gedanken hin- und herspringen. Jeder Wechsel von Aufmerksamkeit verbraucht Energie, Zeit – und hinterlässt sogenannte attentional residue: geistige Rückstände, die uns ausbremsen. Studien zeigen: Nach jeder Unterbrechung dauert es im Schnitt 23 Minuten, bis wir wieder voll bei der Sache sind.
Kontextkollaps erzeugt diffuse Reize – Switching sorgt dafür, dass wir sie nicht mehr einordnen können. Und Polyconsciousness ist der Dauerzustand, der daraus entsteht.
Zusammen formen sie eine Aufmerksamkeitslandschaft, in der wir zwar ständig online, aber selten wirklich anwesend sind.
Wenn Algorithmen den Takt vorgeben – und Kultur flach wird
Und als wenn das nicht schon alles genug wäre, so prägen im digitalen Raum auch immer mehr Algorithmen unsere Wirklichkeit - unsichtbare Kuratoren, von denen oftmals nicht einmal mehr die Firmen wissen, wieso, wann welche Vorschläge in unsere Feeds ausgespuckt werden. Algorithmen entscheiden, was wir sehen, was wir übersehen – und worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Nicht nach Relevanz oder Vielfalt, sondern nach Interaktionswahrscheinlichkeit. Was geklickt, geliked und geteilt wird, gewinnt – unabhängig von Inhalt oder Tiefe.
Das Ergebnis? Eine Kultur, die sich zunehmend angleicht, weil sie den Erwartungen der Systeme entspricht. Kyle Chayka nennt das in seinem Buch Filterworld eine „algorithmische Verflachung“: Cafés in Seoul und Paris sehen gleich aus, Musikstreams klingen überall ähnlich – und auch unsere Aufmerksamkeit wird auf ähnliche Inhalte gelenkt. Es zählt nicht, was dich bewegt, sondern was dich bindet.
Dabei entsteht ein paradoxer Effekt: Algorithmen fördern nicht etwa Vielfalt, sondern verstärken Ähnlichkeit – und damit auch Filterblasen. Sie zeigen uns mehr von dem, was wir ohnehin schon mögen, statt uns zu irritieren oder zu überraschen.
Aufmerksamkeit wird zu einer Rückkopplungsschleife. Was wir sehen, formt unser Verhalten – und unser Verhalten formt, was wir sehen.
Die Frage ist nicht mehr nur: Was wird gezeigt? Sondern: Was verschwindet?
Was geht verloren, wenn Aufmerksamkeit nicht mehr frei fließen kann – sondern gelenkt wird? Kann eigentlich noch Sicherheit darüber erlangt werden, ob Dinge wirklich noch selbst als gut befunden werden oder ob dies lediglich das Ergebnis einer algorithmischen Empfehlung ist? Wer widerspricht schon gern einem System, das so oft, so richtig lag?
EISBRECHER:
Vorschläge für witzige, spannende, tiefgründige Fragen, die Türöffner für erhellende Gespräche sein können. Um an das Ausbrechen aus Filterblasen anzuknüpfen:
Hast du dich schon mal zu einem Kauf hinreißen lassen, von dem du dich im Nachhinein gefragt hast, wieso du das überhaupt gekauft hast? Was war das? Was, glaubst du, hat sich dazu bewogen? Würdest du es wieder tun?
Ein Goldfisch namens …[your name here]
Die facettenreiche, digitale Welt erlaubt es uns, auf Dinge zu stoßen, auf die wir sonst vielleicht nie gestoßen wären. Sie hat uns Wissen, Ideen, Kunst, Musik und so viel mehr in unerschöpflicher Fülle zur Verfügung gestellt, aus der wir individuell viel Profit schlagen können. Aber bei all den Möglichkeiten alles, überall und immer konsumieren zu können, schneidet dies uns von einem anderen Teil unserer Wirklichkeit ab: die Konfrontation mit dem Mangel anstatt mit der Unendlichkeit, den Prozessen des Abwägens und Entscheidens, den ruhigen Blick auf den Moment im Hier und Jetzt.
Algorithmic recommendations are addictive because they are always subtly confirming your own cultural, political, and social biases, warping your surroundings into a mirror image of yourself while doing the same for everyone else.
Kyle Chayka
Vor ein paar Jahren wurde der Begriff “Generation Goldfisch“, anlehnend auf eine Microsoft-Studie, geprägt. Anscheinend hatte sich unsere Aufmerksamkeitsspanne mittlerweile unter dem Niveau eines Goldfischs zurückentwickelt.
Was erst einmal prägnant und schockierend klingt, ist natürlich aber eher Quatsch. Der Vergleich von Äpfeln und Birnen und so. Aber dennoch gibt es Belege für eine Verkürzung der durchschnittlichen Aufmerksamkeitsspanne. Neue Forschungen deuten aber eher darauf hin, dass es sich vielmehr um eine Anpassung unserer kognitiven Prozesse an eine reizintensive Umgebung handelt. Interessanterweise scheint unser Gehirn aktiv auf diese Umgebung zu reagieren, indem es neue neuronale Verbindungen schafft und seine Informationsverarbeitungsstrategien anpasst.
In einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit durch digitale Medien zunehmend verschwimmen, wird die Fähigkeit zur bewussten Aufmerksamkeitslenkung immer wichtiger. Studien zeigen, dass allein die Anwesenheit des Smartphones unsere Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen kann. Dies hat Konsequenzen für unsere Erholungsfähigkeit nach der Arbeit.
Aber da unser Feierabend ja noch so viel mehr sein sollte, als nur eine Phase der Erholung zwischen zwei Arbeitstagen, so scheint es umso wichtiger, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.
Mit welchen Mitteln uns dies gelingen kann, welche Methoden sich als wirksam erweisen, darüber geht es in der kommenden Episode, in meinem anstehenden Newsletter in zwei Wochen.
Bis dahin bleiben dir mehrere Möglichkeiten:
Tiefer ins Thema einsteigen, z.B. über folgende Inhalte:
Buch: Filterworld von Kyle Chayka.
Longread: Tarleton Gillespie - #trendingistrending. Wenn Algorithmen zu Kultur werden.
Arte Doku-Reihe über Dopamin in Bezug auf verschiedene soziale Netzwerke.
Mein Lerncoach-Prompt für einen eigenen Einstieg ins Thema. Du findest alles, was du brauchst, hier im Google-Drive zum Download.
Dir noch einmal die letzte Folge TAoMF zum Thema anhören.
Einfach nur die Spotify-Playlist mit der wunderbaren Musik der letzten Sendung anhören und genießen.
Einfach Feierabend machen und das Leben genießen!
📅 Save the Dates 📅
- nächster Newsletter: 16.5.2025
- nächste Radiosendung: 30.5.2025
Das von meiner Seite.
Freundlichste Grüße und einen schönen Feierabend.
Claas
PS: Wenn dir gefällt, was du hörst und liest, dann empfiehl TAoMF doch einen Lieblingsmenschen deiner Wahl. Das würde mich wie immer sehr glücklich machen.