Jogginghosen sind nicht zum Laufen da!
Warum der Kleiderwechsel zum Feierabend eine neurologische Bedeutung hat. Dazu 5 handverlesene Tracks für mögliche Facetten deines Feierabends.
Musik für fünf verschiedene Feierabend-Momente. Von entspannt bis aktiv, von nostalgisch bis weltoffen. Dazu Gedanken und ein kleines Experiment. Nimm, was du brauchst. Der Rest ist für später!
Ich stehe im Flur. Schuhe und Jacke aus. Und dann Jogginghose!
Es ist nicht so, dass ich vorher besonders unbequem gekleidet war. Aber sobald der weiche Baumwollstoff meine Haut berührt, passiert da was. Meine Schultern senken sich. Mein Atem wird entspannter, ruhiger. Meine Smartwatch misst einen signifikanten Abfall an Stress, wie auch immer sie das eigentlich genau misst. Es fühlt sich an, als würde jemand einen Schalter umlegen. Oder ist mein Jogger dieser Schalter?
Diese Woche geht es um dieses eine simple und gleichzeitig wirkungsvolle Feierabend-Ritual: den Kleiderwechsel. Nicht als modisches Statement, sondern als neurologisches Signal. Denn falls du immer noch denkst, du ziehst einfach nur so etwas Gemütliches an: Falsch gedacht! Während dieser Prozedur sendet unser Körper ganz konkrete Botschaften an unser Nervensystem: „Arbeitsmodus aus. „Entspannungsmodus an.”
Ist Kleidung nicht einfach nur schicker Stoff – sondern auch ein direkter Draht zu unserem Gehirn?
Eisbrecher der Woche
Fragen für dich und andere Menschen. Zuerst für dich selbst beantworten, dann im Hinterkopf fürs nächste Gespräch behalten und die Frage selbst stellen. Denn Feierabend macht man nicht nur allein!
Was war das letzte Kostüm, das du getragen hast?
Wie du das interpretierst, ist deine Sache: Ob du darunter Arbeitskleidung, Sportoutfit oder Halloween-Kostüm verstehst. Den ganzen Tag spielen wir verschiedene Rollen und ziehen dafür verschiedene Kostüme an. Nur merken wir meistens nicht, wie sehr diese Kostüme auch unsere innere Verfassung steuern.
Ich bin sehr gespannt auf deine Antwort. Und gegen witzige Party-Kostüme hab’ ich natürlich auch nichts. Mein letztes Kostüm und meine Gedanken dazu findest du auch hier im Chat.
Wenn Kleidung zum Schalter wird
Die Wissenschaft hat auch für dieses Phänomen einen Begriff: Enclothed Cognition – den systematischen Einfluss, den Kleidung auf unsere psychologischen Prozesse hat.
2012 führten die Forscher Hajo Adam und Adam Galinsky ein Experiment durch. Sie ließen ihre Probanden weiße Laborkittel tragen. Gruppe A wurde gesagt, es sei ein Arztkittel. Gruppe B hörte, es sei ein Malerkittel. Gleicher Kittel, anderes Label. Das Ergebnis? Die „Ärztinnen“ schnitten bei Aufmerksamkeitstests signifikant besser ab als die „Malerinnen“.
Absolut verrückt, oder nicht? Aber es zeigt: Kleidung verändert nicht nur, wie andere uns sehen, sondern auch, wie wir denken und fühlen. Die symbolische Bedeutung eines Kleidungsstücks plus die physische Erfahrung, es zu tragen, triggern bestimmte mentale Zustände.
Was ist nun das spannende Learning für den Feierabend? Wenn Business-Kleidung unser Gehirn auf Fokus und Produktivität einstimmt, kann weiche, lockere Kleidung das Gegenteil bewirken? Sie begünstigt die Aktivierung des parasympathischen Nervensystems – jenes Teils unseres autonomen Nervensystems, der für Erholung und Regeneration zuständig ist. Der Körper kann den Wechsel von strukturiert zu weich als Signal interpretieren: Arbeitsphase beendet. Entspannung möglich.
Genau genommen ist es also vielmehr das Ritual des Kleidertauschs als die Gemütlichkeit deiner Jogger. Aber dennoch: Der Effekt ist messbar. Studien zeigen, dass bereits kleine Rituale wie Kleiderwechsel den Cortisolspiegel senken und die Herzratenvariabilität erhöhen können – beides Indikatoren für einen entspannten Körper.
Bei mir funktioniert das ziemlich zuverlässig. Drei Minuten nach dem Umziehen bin ich mental schon halb raus aus dem Arbeitstag. Das bewahrt mich zwar leider trotzdem nicht vor wieder aufkommenden Gedanken zu den stressigen Themen des Arbeitstages, aber sie lassen sich in meiner flauschigen Jogger um einiges besser handeln.
Andersmacher der Woche
Eine kleine Übung, um Gewohnheiten zu durchbrechen und Alltägliches neu zu entdecken.
Das Nachdenken über meine Jogger hat mich dazu gebracht, mir diese einmal genauer anzuschauen. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich die meisten meiner Klamotten zwar aufgrund ihres Aussehens schätze, mir aber selten ihrer Textur und Haptik bewusst werde. Was eigentlich schade ist, denn ich glaube, verschiedene Stoffe können unseren Tastsinn und unsere Wahrnehmung wunderbar anregen und zugleich einen kleinen meditativen Moment des Innehaltens verschaffen. Diese Woche also als kleine Übung, um das Neue im Gewöhnlichen zu entdecken: Lerne deine Kleidung neu kennen – über deine Haut.
Textur-Scan im Kleiderschrank:
Such dir spontan 3 Kleidungsstücke aus deinem Kleiderschrank - ob Jogger, Lieblingsteil oder aus der Mottenkiste.
Nimm dir eines davon in die Hände und schließe die Augen.
Beschreibe jede Textur für dich. Wie fühlt es sich an? Was entdeckst du? Rau, weich, kühl, glatt, flauschig, elastisch? Nimm dir die Zeit, die du brauchst, bis du nichts Neues mehr entdeckst. Dann nimm das nächste Stück.
Frag dich: Welche Textur hat mich beruhigt? Welche hat mich wach gemacht?
Das Ziel ist NICHT, deine Garderobe neu zu sortieren, wobei das natürlich auch ein guter Startschuss sein könnte. Das Ziel ist: bewusst tasten. Und ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Textilien nicht nur gut aussehen, sondern sich auch (gut) anfühlen. Und in gewisser Weise kommunizieren sie mit unserem Nervensystem. Vielleicht hilft es ja, sich seiner Komfort-Kleidung noch ein Stück bewusster zu werden, um ihren Effekt auf den Feierabend und unsere Entspannung im neuen Lichte leuchten zu lassen.
Soundpicks der Woche
Jeder Feierabend ist einzigartig. All Feierabende are beautiful. Dies ist mein Versuch, dieses Spektrum durch musikalische Hinter- oder Vordergrundbeschallung zu supporten. Jede Woche 5 Tracks für die Facetten deines Feierabends.
Für den Übergang | Different Styles of Smoothness
Orions Belte – Bean
Dieser Track vom norwegischen Trio Orions Belte macht keine großen Ansagen. Er gleitet einfach. Smooth ohne langweilig, entspannt ohne einschläfernd. Die funky Drums und die zurückgelehnte Gitarre öffnen ein Portal irgendwo zwischen Psychedelic Rock, Jazz und Funk – als hätte Tarantino eine versteckte Bar an der norwegischen Küste entdeckt. Das Trio selbst beschreibt den Sound als “drowsy, but not lazy – jolly, but also melancholy”. Trifft’s ziemlich gut.
Was ich daran mag: Der Track balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Hintergrund und Klangreise. Er fordert nichts, bietet aber viel. Ein wenig wie der Moment, wenn du von der Anzughose in die Jogginghose wechselst – plötzlich ist alles ein wenig leichter, aber du bist noch wach genug, um die Welt zu bemerken.
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Hör das, wenn: du nach Hause kommst und merkst, dass du schon wieder den ganzen Heimweg durchgeplant hast, statt einfach nach Hause zu gehen.
Für das Innehalten | Melodien des friedvollen Verharrens
Johnathan Blake – Abiyoyo
Zurücklehnen. Durchatmen. Den Stress von den Schultern fallen lassen.
Johnathan Blake hat mit “Abiyoyo” ein südafrikanisches Schlaflied in einen schwebenden Jazz-Walzer verwandelt. Das Original erzählt von einem Monster, das durch Gesang gezähmt wird – und irgendwie passt das perfekt. Die vibrierenden Vibraphon-Flächen, das sanfte Saxophon und Blakes handtrommelartiger Puls erschaffen ein modernes Wiegenlied für Erwachsene.
Die ersten Takte wirken fast düster. Dann geht das Nachtlicht an, und die Schatten an der Wand verwandeln sich in etwas Vertrautes, Sicheres. Genau das Gefühl, wenn du dich nach einem langen Tag in die Decke kuschelst, dich näher ans Kissen drückst und einmal tief, genussvoll einatmest.
Der Track tut, was gute Feierabend-Musik tun sollte: Er lässt dich los, ohne dass du einschläfst. Er gibt den aufgewühlten Gedanken einen Raum zum Abschweifen, ohne dass du dich darin verlierst.
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Hör das, wenn: du dem inneren Abiyoyo-Monster mit einem wiegenden Rhythmus die Zähne ziehen möchtest – ohne gleich ins Bett zu müssen.
Für eine Zeitreise | Vintage Vibes
Luigi Tenco – Ho Capito Che Ti Amo
Es gibt diese Lieder, die wie ein perfekt geschliffener Diamant sind.
Luigi Tencos 1964er Schmachtfetzen ist so eines. Der italienische Cantautore schuf hier eine “zarte Phänomenologie der Liebe”, wie ein Magazin es ausdrückte. Der Song hat etwas von Susi und Strolch, die gemeinsam Spaghetti schlürfen – unwiderstehlich romantisch, mit einem Hauch Nostalgie, aber nie kitschig.
Stell dir vor: Die Sonne gleitet langsam Richtung Horizont, du gönnst dir einen ersten Aperitif (für mich Negroni!), und diese samtweiche Melodie umhüllt dich wie eine warme Decke. Das ist der Moment, wenn ein Lied nicht nur deine Ohren erreicht, sondern direkt deine Seele.
Und genau wie der Kleidungswechsel nach der Arbeit schafft dieser Song einen Raum für jene kleinen Erkenntnisse, die am Ende des Tages plötzlich klar werden, wenn der Alltagslärm verstummt.
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Hör das, wenn: du den Feierabend wie einen italienischen Sonnenuntergang zelebrieren willst: langsam, warm und voller kleiner Wunder.
Für den Horizont | Allerweltsmusik
Battery Crémil – Len Mou Raid
Palmenblätter wiegen sich in der lauen Sommerbrise, während Salzwasser und der Duft eines kühlen Cocktails mit frischen Früchten in der Luft liegen.
“Len Mou Raid” ist ein Schatz aus Martinique, wo Battery Crémil 1988 diesen Zouk-Love-Klassiker schuf. Die weichen Keyboards, der pulsierend warme Bass und die kreolischen Texte über die Herausforderungen der Liebe (”Man muss fast ertrinken, um schwimmen zu lernen”) wickeln sich um dich wie eine sanfte Welle. Der Song schafft genau jene Balance aus Entspannung und rhythmischem Schwung, die einem Feierabend guttut.
Dieser Track funktioniert perfekt in der Übergangsphase des Feierabends – wenn der Tag noch nicht vollständig losgelassen ist, aber die Nacht schon ihre Arme öffnet. Jetzt kann sich die Welt etwas langsamer drehen.
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Hör das, wenn: du nach dem Arbeitstag die Schuhe abstreifst und für einen Moment in eine andere Welt eintauchen willst, ohne gleich den Koffer packen zu müssen.
Für den Flow | Global Groove
Mildlife – Automatic
Dieser Track schleicht sich in dein Unterbewusstsein wie ein schillernder Nebel.
Das australische Quartett Mildlife schuf 2020 einen kosmischen Jazz-Kraut-Disco-Hybrid, der eine ganz eigene Zeitzone öffnet. Die sanfte Bassline und die Synths entfalten sich langsam, ohne dass du es merkst. Plötzlich bist du mittendrin in einem Flow, der dich von allen automatisierten Tagesabläufen befreit. Fun Fact: Auf der Vinyl-Edition läuft das Stück in einer endlosen “Locked Groove” aus – der Song spielt buchstäblich automatisch für immer, bis du die Nadel hebst. Eine schlaue Spiegelung des Albumthemas.
Der Track funktioniert gleichermaßen bei herbstlichem Nieselregen im Stadtlicht wie beim beschwingt-kopfnickenden Gleiten durch Supermarktregale. Er ist Musik für jenen präzisen Moment, wenn die Arbeit endet und die Welt sich öffnet – wenn Gedanken wie Regentropfen an Fensterscheiben zerplatzen dürfen und nichts mehr dringlich ist.
Ein wenig wie der Unterschied zwischen Hemd und Hoodie: Der eine strukturiert deinen Tag, der andere lässt dich einfach sein.
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Hör das, wenn: du den Modus wechseln willst – wenn du aus dem Büro kommst und dein Gehirn noch im Excel-Tunnel steckt, wenn du noch nicht ins Bett willst, sondern lieber noch einen Moment durch die Stadt schweben möchtest.
Zum Abschluss:
Es würde mich freuen, wenn der ein oder andere Song dir ein paar Minuten wohlverdiente Auszeit ermöglicht und dich bei deinem Feierabend, wie immer er auch aussehen mag, unterstützt. Falls ein Song besonders gut passt, bin ich gespannt darauf zu hören, in welchem Moment, in welcher Stimmung er dich gefangen hat.
Und wenn dir gefällt, was du liest und hörst, freue ich mich darüber, wenn du TAoMF abonnierst und mit einer Weiterempfehlung honorierst.
In diesem Sinne: Schönen Feierabend.
Claas