Place Zero: Wo die Natur unsere Werkseinstellungen zurücksetzt
Über Orte, die uns erden, Rotkehlchen, die uns lehren, und die Wissenschaft der erholsamen Orte.
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Eine Auszeit in der Natur kann viel verändern – ob jetzt zur Ferienzeit mit einem längeren Aufenthalt fernab der Heimat oder in kleinen Häppchen zum Feierabend. Ich hatte das Privileg, mich ein paar Tage lang in der Umgebung der österreichischen Alpen klein auf dieser Welt zu fühlen. Aber es war ein angenehmes, nordendes und befreiendes Gefühl von Ehrfurcht und Demut, das die alltäglichen Probleme in den Hintergrund hat rücken lassen.
Doch auch wenn es in majestätischen Berglandschaften besonders einfach erscheinen mag, seinen Körper und Geist neu zu kalibrieren, können kleine bewusste Momente des „Sich-umschauens“ auch im Feierabend beruhigende Wirkung entfalten. Wenn wir es zulassen und üben.
Der Feierabend als Ort
Feierabend ist nicht nur eine Zeit, sondern auch ein Ort. Und dieser Ort, an dem wir unseren Feierabend verbringen, hat unmittelbare Auswirkungen auf unser Empfinden und Wohlbefinden. Während es im letzten Newsletter um eine gesellschaftliche Dimension der „Geographie des Feierabends“ ging, in der Austausch und das Miteinander im Fokus standen, bewegt mich meine Reise nun zu einer eher persönlichen, individuellen Betrachtung jener Orte, an denen wir Auszeiten suchen und finden.
Place Zero: Die Natur als Ursprung
Auch wenn die Menschheit lang und hart daran gearbeitet hat, der Natur Herr zu werden, so bleibt doch diese besondere Verbindung zur Natur bestehen. Die meisten dürften es als beruhigend, ja erdend empfinden, ihre Blicke auf die Landschaft, die Nasen in die Meeresbrise oder die Ohren auf das Blätterrauschen im Wind zu richten.
Vielleicht muss also der aufgeführten Einteilung in die „Three Places“ von Ray Oldenburg, der ich im letzten Artikel gefolgt bin, ein weiterer Ort hinzugefügt werden. Neben Zuhause, Arbeit und Orten des sozialen Umfelds, fehlt nämlich die Natur. Aber nicht als „Fourth Place“, sondern eher als „Place Zero“. Schließlich ist die Natur der Ort, von dem wir kommen und an den wir so oft zurückkehren, um unsere Batterien wiederzuladen.
Der Eisbrecher: Place Zero
Fragen, die man selten stellt, deren Antworten aber spannend, witzig oder tief blicken lassen. Sie öffnen Türen zu Seiten, die du an anderen noch nicht kennst. Beantworte sie erst selbst, dann stell sie deinen Lieblingsmenschen.
„Wenn du einen Ort als deine persönliche Ladestation bezeichnen müsstest, wo Körper und Geist wieder auf Werkseinstellungen zurückgesetzt werden – welcher wäre das?"
Was macht Orte wirklich erholsam?
In vielerlei Forschungen wurde versucht, den Einfluss von bestimmten Orten auf den Menschen zu messen. Eine in diesem Kontext hilfreiche Betrachtung ist die Attention Restoration Theory (ART) aus den 80er Jahren von Rachel und Stephen Kaplan von der University of Michigan: Grundlage war die Beobachtung, dass Studenten nach Naturaufenthalten bessere Leistungen in Aufmerksamkeitstests zeigten, als jene ohne Auszeit in der Natur.
Passend dazu meine Folgen zu Aufmerksamkeit:
Die Ergebnisse ihrer Forschung lassen sich in etwa so lesen: Nicht „schöne Orte“, sondern psychologisch wirksame führen dazu, dass Menschen sich besser erholen können.
Die vier Säulen der Erholung
Dabei führen die Kaplans vier Kriterien für wirkungsvolle „restorative environments“ an:
BEING AWAY
Es ist nicht nur zwingend relevant, wo unser Körper ist, sondern auch, wo der Geist ist. Auch schon das gedankliche Abdriften bei der Betrachtung eines Bildes mit Naturszene kann ein wirkungsvoller „Head-Escape“ sein. Wenn der Kopf weiter bei der Arbeit ist, hilft es wenig, wenn sich der Körper dabei in einem SPA auf Mauritius befindet.
FASCINATION
Hier unterscheiden die Kaplans in „soft“ und „hard fascination“. Während Letztere eher fordernd und anstrengend ist, z.B. bei spannenden Serien, Videospiele oder Fußball schauen, bietet die „Soft Fascination“ genug Input, um den Geist zu beschäftigen, ohne ihn zu überfordern, sodass Raum für Reflexion bleibt. Hier sind es die kleinen Dinge: das Hinterherschauen eines Schmetterlings oder das Betrachten von Reflexionen auf dem Wasser. Wenn man bedenkt, dass die menschliche Aufmerksamkeit erst in den letzten Jahrhunderten zunehmend von „hard fascination“ durch zunehmende Reize geprägt ist, scheint es logisch, dass unser Gehirn besser mit entspannteren Reizen aus der Natur umgehen kann.
EXTENT
Gemeint ist die Dimension der Tiefe von Räumen, der Eindruck einer Welt, die es zu erkunden gibt. Und diese kann auch schon im Kleinen existieren, sofern sie „groß genug“ sind, sich in ihnen gedanklich zu verlieren. Ein gut angelegtes Aquarium zum Beispiel kann eben dieses Kriterium erfüllen: Es bietet Platz für Entdeckungen und erzählt eine „kohärente Geschichte“.
COMPATIBILITY
Kurz gesagt: Wenn der Ort nicht zu dir passt, kann er seine Magie nicht für dich entfalten. Hier können verschiedene Dimensionen eine Rolle spielen: Passt er zur gewünschten Aktivität, zur Stimmung, zum sozialen Bedürfnis oder auch zum Zeitbudget? Unterstützt der Ort meine Interessen, Bedürfnisse und Verlangen oder steht er ihnen entgegen? Ich kann den Strang mögen und Lust haben zu lesen. Wenn es aber dort zu windig für das Buch ist, wird mich die Situation eher stressen als entspannen.
Diese Kriterien greifen teils ineinander, müssen aber nicht immer zwingend alle komplett erfüllt werden. Aber es fällt auf, dass eine Mischung aus bewusster Aufmerksamkeit und der richtigen Wahl des Ortes ist, die zu mehr Erholung führt.
Vom Wissen zum Wahrnehmen
Was aber in dieser theoretischen Form erst mal logisch klingt, kann schnell in der Praxis überfordernd daherkommen. Als ob ich in der Lage wäre, stets all diese Faktoren zu scannen und mir bewusst zu machen, um ein paar mehr Prozentpunkte Erholung aus dem Feierabend zu holen.
Tatsächlich aber reicht vielleicht schon ein kleiner Gedankenanstoß für einen Shift in der Wahrnehmung. So haben insbesondere die Ausführungen von Jenny Odell in „How to do Nothing" zu ihrer neugewonnenen Leidenschaft des Birdings dazu geführt, dass ich plötzlich, ohne vorher großes Interesse an Vögeln gezeigt zu haben, viel bewusster in kleinen Momenten des Stadtlebens von einem kleinen Piepmatz aus dem Alltag gerissen werde und voller Faszination für einen kleinen Moment diesem wunderbaren Geschöpf hinterherschaue. Und selbst in der betoniertesten Stadt gibt es viele dieser kleinen Mikromomente in unmittelbarer Nähe, die es zu erkunden lohnt.
Die Kunst der Ortsverbundenheit
Anlehnend an die Philosophie der Bio-Regionalismus-Bewegung der 70er Jahre (die leider heutzutage auch von der neuen Rechten zur Verbreitung für braunes Gedankengut missbraucht wird) spricht sich Jenny Odell für eine neue Ortsverbundenheit als eine lohnenswerte Achtsamkeitspraxis aus. Oder anders gefragt: Wie gut kennst du den Ort, an dem du dich gerade befindest? Kennst du den Namen und die Quelle des nächstgelegenen Bachlaufs? Welche Bäume wachsen in der Straße, welche Tiere begegnen dir? Und wie sieht es mit den Menschen in deinem Haus aus?
Geograf Yi-Fu Tuan nannte es „Sense of Place". Die Idee: Wer seinen Ort kennt, entwickelt eine tiefere Verbindung und auch Verantwortung zu ihm. Ein anonymer Stadtraum wird zu einem persönlichen, mit einer Geschichte und Erinnerungen.
Vielleicht ein lohnenswerter Ansatz, um unserer gewissen Blindheit der Natur um uns herum gegenüber etwas entgegenzusetzen.
Die neue Sehnsucht nach dem Nahen
Es hat durchaus einen Grund, warum Mikro-Abenteuer und Waldbaden sich in Großstädten wachsender Beliebtheit erfreuen.
Aber es geht nicht darum, in jedem Moment auf jede Kleinigkeit zu achten. Vielmehr darum, sich der Möglichkeit zu öffnen, sich von den kleinen Dingen um sich herum ablenken und überraschen zu lassen. Den Dingen ein offenes Auge, Ohr oder Nase zu schenken und diese Momente des bewussten Wahrnehmens nicht als unproduktive Ablenkung, sondern als wertvolle Aufladung der eigenen geistigen Batterien zu begreifen.
Und auch hier ist wichtig: Versuche, die Dinge nicht zu erzwingen, nicht zu sehr zu wollen. Fange klein an, folge deiner Neugier. Sie wird leiten!
Klein und groß zugleich
Die österreichischen Alpen haben mich klein gemacht, aber die Rotkehlchen im Garten haben mich groß werden lassen – groß genug, um die kleinen Wunder zu sehen. Vielleicht ist das die wahre Kunst des Feierabends: nicht die spektakuläre Flucht, sondern die alltägliche Entdeckung. Nicht das ferne Gipfelerlebnis, sondern der nahe Blick, der plötzlich in die Tiefe geht. Denn manchmal braucht es keine Berge, um Perspektive zu gewinnen. Manchmal reicht ein Piepmatz auf dem Fenstersims.
Der Andersmacher
Eine kleine Übung, um Gewohnheiten zu durchbrechen und Alltägliches neu zu entdecken. Denn manchmal braucht es nur einen anderen Blickwinkel, um wieder neugierig zu werden.
Widme auf deinem nächsten Heimweg deine volle Aufmerksamkeit für eine Minute einem anderen Lebewesen und lass dich faszinieren. Was kommt dir in den Sinn, welche Sinne werden besonders angesprochen? Wohin die Taube wohl fliegt? Wie alt der Baum wohl ist? Wie hat es der Löwenzahn bloß geschafft, zwischen den Gehwegplatten zu wachsen? Wie der Schmetterling wohl als Raupe aussah?
In diesem Sinne: schönen Feierabend!
Claas-Hendrik Berg