Soundletter 001 - 5 Tracks für 5 Feierabende
Von brasilianischem Samba-Funk bis sudanesischem Wüstenblues, von schwebenden Jazz-Texturen bis deutschem Dub-Pop. Sechs Klangwelten für den Moment, wenn das Jahr sich dem Ende neigt.
Jeder Feierabend ist einzigartig. Dies ist mein Versuch, mit handverlesener Musik dieses Spektrum durch musikalische Hinter- oder Vordergrundbeschallung zu supporten. Von entspannt bis aktiv, von nostalgisch bis weltoffen. Jenseits von algorithmischem Einheitsbrei und 0815-Radiogedudel.
Das Jahresende ist nah. Grund genug, mein Benennungs-Wirrwarr fürs kommende Jahr einmal glattzuziehen und diesem Soundletter nun eine stimmige, wiederkehrende Nummerierungslogik zu verpassen. Wir beenden also das Jahr mit dem Soundletter 001. Anpassungen erst wieder bei 1000. 🙃
Passend zum Jahresbeginn gibt es übrigens einen von 5 exklusiven TAoMF-Kalendern zu gewinnen. Du musst nur über deinen perfekten Feierabendschreiben. Hier mehr dazu:
Um diesen, zumindest Namens gebenden Neuanfang zu komplettieren, ergänze ich den Soundletter künftig auch um eine weitere Kategorie: „Für das Eintauchen“.
Mit dieser Rubrik möchte ich den Gesamtkunstwerken von Alben huldigen, die über die Schönheit eines einzelnen Songs hinausgehen. Longplayer, die in ihrer Gänze die Magie von Musik entfesseln und auf die ein oder andere Weise einen besonderen Platz in meinem Herzen einnehmen. Ich möchte damit auch mich selbst einladen, wieder anders Musik zu hören: Bewusster, aufmerksamer, langsamer, wiederholender. Ein gesamtes Album zu hören bedeutet auch, sich auf einen Artist voll und ganz einzulassen. Ihm eine Stunde Zeit zu schenken. So gelingt es viel besser, diese Stimmung der Platte langsam und behutsam in sich aufzunehmen.
Apropos bewusstes Musikhören. Hier mein Soundflip der Woche, ein Prompt, um Musik mal anders zu hören:
Soundflip der Woche
Ein Song ist nicht nur ein Song. Je nachdem an welchem Ort, zu welcher Zeit, mit welcher Stimmung du ihn hörst, kann er sich und seine Bedeutung verändern. Der Soundflip lädt dich ein, weitere Facetten zu erkunden, neue Blickwinkel zu wagen, und schickt deine Ohren auf unbekannte Pfade. Weil Musik zu schön ist, um sie nur nebenbei zu hören!
An welchem Ort, in was für einem Studio wurde dieser Song wohl aufgenommen? Wie war wohl die Stimmung bei der Aufnahme?
5 Tracks sind dir nicht genug? Hier geht’s zur letzten Radiosendung, vollgepackt mit handverlesener Musik für deinen Feierabend.
Jeder Feierabend ist einzigartig. Dies ist mein Versuch, dieses Spektrum durch musikalische Hinter- oder Vordergrundbeschallung zu supporten. Jede Woche 5 Tracks für die Facetten deines Feierabends.
Für das Eintauchen | Album der Woche
ROGÊ – CURYMAN
Samba-Funk mit Kinoleinwand-Feeling. Rogê, Gitarrist und Songwriter aus Rio, hat zwanzig Jahre und sechs Alben gebraucht, um auf dem internationalen Radar aufzutauchen.
2019 verließ Rogê Brasilien wegen der politischen Lage, zog mit Familie nach Hollywood und feilte während der Pandemie an seinen Songs. Im August 2021 traf er Thomas Brenneck, Gitarrist der Budos Band und Produzent hinter Lady Gaga und Amy Winehouse. Vier Tage Live-Aufnahmen später war Curyman im Kasten – analog, alle im selben Raum, wie in den Siebzigern.
Das Ergebnis: elf Tracks, die zwischen sonnendurchflutetem Samba, warmem Soul und psychedelischen Arrangements schweben. Für vier Songs holten sie Arthur Verocai aus dem Ruhestand – die brasilianische Arrangeur-Legende, deren gleichnamiges 1972er Album heute für dreistellige Summen gehandelt wird. Seine Streicher auf “Pra Vida” und “Se Eu For Falar De Amor” sind das emotionale Rückgrat der Platte.
Curyman handelt von Natur, von indigenen und afrikanischen Wurzeln Brasiliens, von Durchhalten, wenn’s schwierig wird. Der Titel selbst ist ein Wortspiel: Rogês Nachname Cury, ein Guaraní-Wort für einen alten Fisch, und eine Verneigung vor Dorival Caymmi – verschmolzen zu einem Spitznamen aus einer LA-Session.
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Hör das, wenn: du merkst, dass du seit Monaten keinen Sonnenuntergang mehr bewusst angeschaut hast – und das ändern willst.
Für den Übergang | Different Styles of Smoothness
GOGO PENGUIN FEAT. DAUDI MATSIKO – FORGIVE THE DAMAGES
Dreizehn Jahre, sechs Alben – und nie eine Stimme. GoGo Penguin waren das Manchesterer Instrumental-Trio, das Jazz mit Elektronik verschmolz und dabei konsequent auf Worte verzichtete. Bis jetzt.
Der britisch-ugandische Singer-Songwriter Daudi Matsiko tourte jahrelang als Support mit der Band. Man wurde Freunde, sprach gelegentlich über eine mögliche Zusammenarbeit, aber es passierte nichts. Bis zu jenem Wochenende, als Matsiko spontan in Manchester landete – gerade von einem Gig in der Slowakei. Bassist Nick Blacka holte ihn vom Flughafen ab. Sie saßen in seinem Garten, tranken Bier, redeten über das neue Album. Ursprünglich war für diesen Track an Field Recordings gedacht, vielleicht Samples. Matsiko ging nach Hause und schrieb Lyrics. Alles passte zusammen, ohne dass es geplant war.
Matsikos eigene Geschichte gibt dem Ganzen Tiefe. Sein Debütalbum handelt schonungslos ehrlich von Depression und bipolarer Störung. Beim Great Escape Festival bekam er Standing Ovations und gründete danach sein eigenes Label. Seine Stimme ist fragil und kraftvoll zugleich – hier schwebt sie über GoGo Penguins schwebenden Texturen wie ein Handschlag zwischen zwei Welten, die sich endlich gefunden haben.
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Hör das, wenn: du nach einem intensiven Tag die Haustür hinter dir schließt und erstmal fünf Sekunden einfach nur stehst.
Für das Innehalten | Deep listening & meditation
PEACE FLAG ENSEMBLE – THE RIGHT TO SILENCE
Diese kanadische Jazz-Band entstand bei einem Buchclub. Pianist Jon Neher und Produzent Michael Scott Dawson saßen zusammen, diskutierten Murakami und Carmen Maria Machado – und stolperten dabei über ihre gemeinsame Liebe zu alten ECM-Aufnahmen. Dawson schickte später eine SMS, während er unterwegs war, um sich einen Smoothie zu holen: Lass uns was zusammen machen. Neher sagte ja.
Was daraus wurde, klingt wie ein Experiment in kontrollierter Stille. Piano und Bass bewegen sich in parallelen Grooves, während die Trompete darüber schwebt. Das Album kam komplett ohne Schlagzeug aus – ungewöhnlich für ein Quintett. Dawson, selbst Ambient-Künstler, nimmt Nehers Klavierimprovisationen und jagt sie durch Bandmaschinen und Pedale, fügt Field Recordings hinzu. Das Ergebnis hat jemand mal als “Sensory Deprivation Tank mit Keith Jarrett” beschrieben. Klingt dramatisch, trifft es aber.
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Hör das, wenn: du merkst, dass du die letzten zehn Minuten gedanklich schon morgen warst und endlich mal im Heute ankommen willst.
Für die Zeitreise | Vintage Vibes
BARBARA & ERNIE – SOMEBODY TO LOVE
1971 verwandelten zwei New Yorker Session-Musiker den psychedelischen Jefferson-Airplane-Klassiker in etwas völlig anderes. Wo Grace Slick mit Wut und Dringlichkeit sang, bringt Barbara Massey eine trockene, aber leidenschaftliche Qualität – das Original wird zum dampfenden Soul-Funk-Traum.
Massey hatte vorher als Background-Sängerin für Jimi Hendrix, Cat Stevens und Herbie Hancock gearbeitet. Ernie Calabria spielte Gitarre für Harry Belafonte und Nina Simone. Produzent Joel Dorn – der später zwei Grammy-Rekorde des Jahres mit Roberta Flack einfahren sollte – legte Masseys Stimme mehrfach übereinander für sanfte Selbstharmonien. Calabria spielt dazu elektrische Sitar, aber nicht die kitschige Summer-of-Love-Variante. Etwas Subtileres, Durchscheinenderes.
Das Album „Prelude To...” verschwand nach der Veröffentlichung fast spurlos. Die beiden machten danach nie wieder zusammen Musik – warum, weiß niemand so genau. Erst Jahrzehnte später gruben Crate-Digger die Platte wieder aus. Hip-Hop-Produzenten entdeckten sie als Sample-Fundgrube. Die Original-Vinyl-Pressings landeten früher in Dollar-Bins. Heute nicht mehr.
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Hör das, wenn: du am Sonntagmorgen das Fenster öffnest und die Stimmung von draußen dich an einen längst vergangenen Wintermorgen erinnert, den du nicht mehr genau greifen kannst.
Für den Horizont | Allerweltsmusik
NOORI & HIS DORPA BAND – AL AMAL
Der Titel bedeutet „Hoffnung“ auf Arabisch – und dieser Track ist ein historisches Dokument: das erste international veröffentlichte Album der Beja-Musik überhaupt.
Die Beja leben seit Jahrtausenden zwischen Rotem Meer und sudanesischer Wüste. Unter Omar al-Bashirs 30-jähriger Diktatur wurde ihre Kultur systematisch unterdrückt – Sprache, Musik, alles sollte verschwinden. Noori gründete seine Band 2006 als Akt des Widerstands. „Dorpa” bedeutet „Berg” in der Beja-Sprache. Die Echos der Berge, erklärt er, verstärken die Musik und geben ihr Kraft.
Mit 18 baute er sich sein Hauptinstrument selbst: Er verschmolz den traditionellen Tambour seines Vaters mit einer E-Gitarre, die er auf einem Schrottplatz in Port Sudan fand. Das Ergebnis klingt wie nichts anderes – irgendwo zwischen Surf-Gitarre und Wüstenblues.
Entdeckt wurde die Band 2021 über sudanesisches TikTok, kurz nach dem Militärputsch. Ein New Yorker Label-Gründer sah ein Video, war fasziniert, flog hin. Fünf Tage wurde in Omdurman aufgenommen. Das Vinyl ist längst ausverkauft. Sechs Minuten hypnotischer Groove, bei dem Gitarre und Saxofon sich elegant umeinanderwinden. Instrumental, aber voller Aussagen.
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Hör das, wenn: du Fernweh verspürst und dich an einen anderen Ort träumen möchtest.
Für den Flow | Global Groove
DER ASSISTENT – DOMINO
Tom Hessler ist seit fast zwanzig Jahren Frontmann der Hamburger Indie-Band FOTOS. Die hatten 2006 einen kleinen Hit, danach wurde es ruhiger. In der Musikbranche gilt man damit als verbrannt – der Typ, bei dem alle denken: Ach, der war das. Lass mich damit in Ruhe.
Also Neuanfang. Unter neuem Namen, mit neuem Sound. Dub-Pop, der nach Filmmusik klingt. Der Countdown-Reim in „Domino” erinnert an Nightmare on Elm Street – „Erst spielen sechs, fünf, vier, drei, dann nur noch wir.” Trotz der Metapher der fallenden Steine geht es nicht ums Spiel, sondern um Zweisamkeiten. Angelegt im Ungefähren, hinter Milchglas, mit allen Deutungsmöglichkeiten der Welt.
Das Album entstand in einer seiner dunkelsten Zeiten. Trennung nach elf Jahren, schwere Verletzung, monatelange Reha. Im Corona-Winter saß er allein in seiner Berliner Wohnung und schwofte zu alten Jackie-Mittoo-Platten. Fand darin einen Weg zurück. Er beschreibt seinen Sound als Erinnerung an braunes Eichen-Furnier, Flokati-Teppiche, Wickie und die starken Männer. Irgendwo zwischen Synth-Pop, New Wave und bittersüßer Filmmusik. Das Album, sagt er, war der bisher größte Akt von Selbstfürsorge in seinem Leben.
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Hör das, wenn: du abends noch etwas erledigen willst, aber nicht so richtig, und der Track genau die richtige Menge Antrieb liefert, ohne Druck zu machen.
Das war es wieder für diese Woche! Es würde mich freuen, wenn der ein oder andere Song dir ein paar Minuten wohlverdiente Auszeit ermöglicht und dich bei deinem Feierabend, wie immer er auch aussehen mag, unterstützt.
Und wenn dir gefällt, was du liest und hörst, freue ich mich darüber, wenn du TAoMF abonnierst und mit einer Weiterempfehlung honorierst.
In diesem Sinne: Schönen Feierabend & einen guten Rutsch!
Claas-Hendrik Berg



