Soundletter - Fünf Songs für fünf Feierabende - Woche 51
Arthur Verocai, Peter Broderick, Owiny Sigoma Band, The Bees und Cari Cari – fünf Songs zwischen brasilianischem 70er-Soul, Brooklyn-Ambient, kenianischer Nyatiti-Fusion & österreichischer Desert-Rock
Jeder Feierabend ist einzigartig. Dies ist mein Versuch, mit handverlesener Musik dieses Spektrum durch die wunderbare Welt der Musik zu supporten. Von entspannt bis aktiv, von nostalgisch bis weltoffen. Handverlesen, mit Liebe kuratiert und jenseits von algorithmischem Einheitsbrei.
In den letzten Wochen ist mir eine Sache aufgefallen: Ich höre immer häufiger Musik nur so nebenbei. Unbewusst. Passiv. Eine Playlist angeschmissen und ab dafür!
Und zugleich sickern meine eigenen Texte zu mehr Aufmerksamkeit im Alltag, weniger Bildschirmzeit und persönlichem Geschmack in Zeiten von KI langsam. Ebenso wie die Debatten über die Vergütungsmodelle der Streaming-Anbieter und der Einzug von KI auf all diesen Plattformen.
Immer mehr wird mir bewusst, dass ich wieder anders Musik hören möchte. Wertschätzender, neugieriger, aufmerksamer.
Aber wie nur? Bei diesem Gedankengang hat es plötzlich Klick gemacht und wurde zugleich eine neue Rubrik für diesen Soundletter geboren: Ich nenne sie „Soundflip“.
Es ist eine audiophile Kombination aus den philosophischen Gedanken von Rob Walker und dem Kartenspiel „Ways of Looking at Art“, welche ich beide wärmstens empfehlen kann.
Es ist eine spielerische Einladung, die bekannten Pfade zu verlassen und einen Song, ein Album, einen Klang aus einer anderen Perspektive zu begutachten. In der Folge nun also jede Woche ein kurzer Prompt für ein kleines musikalisches Hörabenteuer. Machst du mit?
Soundflip der Woche
Ein Song ist nicht nur ein Song. Je nachdem an welchem Ort, zu welcher Zeit, mit welcher Stimmung du ihn hörst, kann er sich und seine Bedeutung verändern. Der Soundflip lädt dich ein, weitere Facetten zu erkunden, neue Blickwinkel zu wagen, und schickt deine Ohren auf unbekannte Pfade. Weil Musik zu schön ist, um sie nur nebenbei zu hören!
Wenn dieser Track der Anfang deines nächsten kreativen Projekts wäre – was würdest du erschaffen?
Nimm einen Song von unten, oder pick dir einen altbekannten raus. Vielleicht sind es ja besonders jene Tracks, die du schon 1000-mal gehört hast, in denen es noch neue Welten zu entdecken gibt.
5 Songs für 5 Feierabende
Jeder Feierabend ist einzigartig. Dies ist mein Versuch, dieses Spektrum durch musikalische Hinter- oder Vordergrundbeschallung zu supporten. Jede Woche 5 Tracks für die Facetten deines Feierabends.
Für den Übergang | Different Styles of Smoothness
The Bees – Winter Rose
The Line of Best Fit nannte diesen Song „a hazy, slow patchouli-burn“. Das trifft’s ziemlich gut. Winter Rose schleicht sich an, reggae-getönt, mit Bläsern, die fast seufzen – als hätte jemand den Abend in Zeitlupe gedreht.
Die Geschichte dahinter ist, nun ja … „arty“: Frontmann Paul Butler kam gerade aus dem Amazonas zurück. Ayahuasca. Transformation. Der ganze Kram. Vorher hatte er in L.A. Devendra Banharts Album “What Will We Be” produziert. Die Songs, die er anschließend schrieb, klangen anders. Weicher. Als hätte jemand den Ehrgeiz rausgedreht. „Everyone has a song within them or a rhythm that is individual and personal only to you“, sagte er danach. “This kind of activity unlocks that.”
Zum ersten Mal habe ich den Song im Remix von Nicolas Jaar gehört. Auch wenn fast alle seine Remixe meinen Nerv getroffen haben, so hat dieser Song stets einen besonderen Platz für mich eingenommen.
Nur dass ich damals davon ausgegangen bin, dass es hier ein alter Schinken ist, den er da remixt. Und keine Scheibe aus dem Jahr 2010. Aber der Track ist einfach zeitlos wundervoll.
Und vielmehr Winter kann ich dir in meiner Songauswahl auch nicht bieten! 🙃
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Hör das, wenn: du nach der Arbeit nicht “aktiv entspannen” willst, sondern einfach nur da sein – vielleicht mit einem Glas Wein, vielleicht ohne, auf jeden Fall ohne Agenda.
Für das Innehalten | Deep listening & meditation
Peter Broderick, Bing & Ruth – What Happened To Your Heart (Bing & Ruth Rework – Part II)
Peter Broderick war auf dem Weg zur Hochzeit seines Schwagers. Irgendwo zwischen Galway und Wicklow überrollten ihn Gedanken an den Tod. Er war Mitte 30 – das Alter, in dem sein Großvater George seinen ersten Herzinfarkt hatte. Von dem er sich nie erholte.
Bei der Hochzeit suchte Broderick einen leeren Raum und schrieb. Schnell. Die Basis dieses Songs.
„What happened to your heart? Was it just faulty from the start?” Die Lyrics sind brutal direkt. Kein Metaphern-Versteckspiel. “Sometimes I’ve wondered if you locked something up in there—that gnawed and clawed at the most vital parts of your most vital organ—until bang! That thing just stopped working.”
Das Original nahm Broderick komplett allein auf, in einer Londoner Wohnung. Alle Instrumente selbst: Gitarre, Percussion, Violinen, Synthesizer, Banjo, Glockenspiel, Shruti-Box. Dann kam David Moore mit seinem Ensemble Bing & Ruth – bekannt für minimalistische, sensible Ensemble-Musik – und verwandelte die Schlafzimmer-Aufnahme in etwas Meditatives. Piano als Perkussion. Tape Delay. Woodwinds. Die Trauer bekommt Raum zum Atmen.
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Hör das, wenn: du dir einen Moment in der hektischen Vorweihnachtszeit für dich und deine Erinnerungen an deine Lieblingsmenschen nehmen möchest.
Für eine Zeitreise | Vintage Vibes
Arthur Verocai – Na Boca do Sol
1972 - Rio de Janeiro. Militärdiktatur. Arthur Verocai nimmt ein Album auf, das keiner will.
Er hatte vorher für alle arrangiert: Jorge Ben, Gal Costa, Elis Regina, Ivan Lins, Marcos Valle. Das Debüt sollte sein Meisterwerk werden. 20-köpfiges Streicherensemble. Besetzung vom Feinsten! Alles, was Verocai liebte, floss rein: Blood, Sweat and Tears, Miles Davis, Bossa Nova, Villa-Lobos, Debussy.
Dann: Stille. „No one said anything about it“, erinnert sich Verocai. “I was disappointed because I realized it wasn’t possible to do what I wanted. I thought, I’m in the wrong place.”
Er hörte auf mit den großen Kompositionen. 30 Jahre lang. Stattdessen Werbejingles, um Geld zu verdienen.
Bis US-amerikanische Hip-Hop-Produzenten das Album beim Crate-Digging entdeckten. MF DOOM sampelte 2004 als Erster. Madlib sagte: „I could listen to this album every day for the rest of my life.“ Ganz ehrlich: Ich auch! Weshalb es eine meiner ersten Plattenneukäufe seit Ewigkeiten war. Original-Vinyls erreichten Preise von über 5000 Dollar.
Und Verocai? Arrangierte plötzlich für Hiatus Kaiyote, BADBADNOTGOOD, spielte bei der posthumen Louis-Vuitton-Show von Virgil Abloh für Tyler, the Creator. 2023, mit 78 Jahren, seine erste US-Tour. Welch wundervolles Comeback!
„Na Boca do Sol“ – wörtlich „Im Mund der Sonne“, gemeint ist der Sonnenaufgang – handelt vom Aufwachsen in einer kleinen brasilianischen Stadt. Der Bahnhof als Symbol für Träume, die irgendwohin führen. Orchestrale Arrangements, funkige Basslines, psychedelische Elemente. Ein schimmernd-traumhaftes Mosaik von Sound!
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Hör das, wenn: du dich daran erinnern willst, dass manche Dinge länger brauchen, bis sie ankommen – und dass das okay sein kann.
Für den Horizont | Allerweltsmusik
Owiny Sigoma Band – Wires
Die Geschichte beginnt 2009 mit einem Kulturprojekt namens “The Art of Protest” in Kenia. Drei Londoner Musiker – unter ihnen Tom Skinner, der heute bei The Smile mit Thom Yorke und Jonny Greenwood spielt – treffen Joseph Nyamungu. Meister der Nyatiti. Das ist eine fünf- bis achtsaitige gezupfte Leier, etwa 60 bis 90 Zentimeter lang, die man an der Brust hält. Nyamungus Instrument gehörte seinem Urgroßvater.
„Wires“ pulsiert, hypnotische Nyatiti-Melodien verflechten sich mit elektronischen Elementen und polyrhythmischen Strukturen aus West-Kenia. Gilles Peterson – der später die Band für sein Brownswood Label signte – verglich den Sound mit Liquid Liquid, der New Yorker Post-Punk-Band. “A timeless piece of music that accentuates the importance of different cultures collaborating with sincerity and quality.”
Tom Skinner erinnert sich an Sessions im kenianischen Outback: „This went on for hours, really heavy music and a lot of Changaa“ – Changaa ist selbstgebrauter Schnaps, auch bekannt als “Kill Me Quick” – “This was one of the most magical nights that I’ve ever had. In the middle of nowhere, in the outback of Kenya, under the stars.”
Traurige Fußnote: Charles Owoko, der Nyiduonge-Drummer der Band, verstarb 2015. “The Lost Tapes” von 2021 enthält posthume Aufnahmen.
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Hör das, wenn: du deinen Horizont erweitern willst, ohne dass es nach touristischem Weltmusik-Souvenir klingt – echte Fusion, nicht bloß Oberfläche.
Für den Flow | Global Groove
Cari Cari – One More Trip Around the Sun
Stephanie Widmer setzte sich zwei Wochen vor der ersten EP-Aufnahme ans Schlagzeug. Zwei Wochen. Autodidaktin. Heute spielt sie außerdem Didgeridoo (aus Australien mitgebracht), Maultrommel und seit diesem Album auch Gong. Alexander Köck dazu an der Gitarre. Das war’s. Ein Duo aus Österreich, das klingt wie – “the lovechild of The Kills and The XX with a pinch of Morricone.” (fm4)
Das neue Album entstand aus einer Sinnkrise. „Es fühlt sich nicht viel anders an, ob 15.000 Menschen beim Southside Festival vor der Bühne stehen oder 500 in einer kleinen Venue“, sagen die beiden. „Wir haben viele Dinge erreicht, die ich nie für möglich gehalten habe. Die Größe, die wir jetzt haben, hätte ich mir nie erträumt.” Und trotzdem: “Am Ende zählen Erlebnisse und Verbindungen – nicht die Statistiken.”
Zugegeben: Noch am Anfang ihrer Karriere habe ich sie beim Reeperbahn Festival auf dem Reeperbus spielen sehen. In gewissen Kreisen wurden sie damals als Geheimtipp gehandelt. Mich hat es am Anfang nicht so mitgenommen. Um ein paar Jahre später festzustellen: WOW!
Der Titeltrack klingt wie ein Tarantino-Soundtrack, falls Tarantino jemals einen Film über existenzielle Neuorientierung drehen würde. Western-Gitarren, das charakteristische Didgeridoo, dieser eigenwillige Sound, der sich keinem Algorithmus beugt. Auf dem Albumcover: ihre Familien und engsten Freunde. Ein Statement gegen “die ständige Jagd nach mehr.”
Angefangen hat alles 2013, Sommer, in einem alten Haus am Neusiedler See. Da nahmen sie ihre erste EP auf. Jetzt spielen sie bei SXSW 2025.
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Hör das, wenn: du einen Song brauchst, der dich fragt, ob „mehr“ wirklich die richtige Richtung ist.
5 Tracks sind dir nicht genug? Hier geht’s zur letzten Radiosendung, vollgepackt mit handverlesener Musik für deinen Feierabend.
Das war es wieder für diese Woche! Es würde mich freuen, wenn der ein oder andere Song dir ein paar Minuten wohlverdiente Auszeit ermöglicht und dich bei deinem Feierabend, wie immer er auch aussehen mag, unterstützt. Falls ein Song besonders gut passt, bin ich gespannt darauf zu hören, in welchem Moment, in welcher Stimmung er dich gefangen hat.
Falls dir gefällt, was du liest und hörst, freue ich mich wie immer über ein Abo, eine Weiterempfehlung oder ein paar nette Worte. TAoMF ist ein Herzensprojekt und Hobby. Es ist kostenlos für alle verfügbar. Wenn du meine Arbeit wertschätzt und unterstützen möchtest, kannst du mich gern auf einen Kaffee einladen.
In diesem Sinne: Schönen Feierabend.
Claas-Hendrik Berg


