Cocooning - Die Kunst des bewussten Einmummelns
Von Murmeltieren und schweigenden Produktivitäts-Gurus: Warum strategisches Faulenzen eine geheime Superkraft ist.
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Schon mal was von den Murmeltier-Tagen gehört?
Zum einen ist es eine alte westfälische Bauernregel, nach der - sollte das Murmeltier „beim Aufsteh’n seinen Schatten sehen“ – es noch sechs Wochen lang kalt bleiben soll. In den USA und Kanada wird dieser Tag mancherorts am 2. Februar groß zelebriert. Das ist durchaus putzig, aber nicht die Bedeutung, die ich meine.
Denn meine Freundin nutzt diese Beschreibung für diese Handvoll von Tagen im Jahr, an denen bei ihr einfach nichts geht. Keine Motivation, keine Lust, das Leben da draußen zu genießen. Einfach nur drinnen einmummeln bzw. einmurmeln. Daher die Bezeichnung! Das Spannende daran ist, dass ich, obwohl ich dieses, nennen wir es, Konzept, anfangs eher belächelt habe, diesen sozialen Rückzug ebenfalls von mir nur allzu gut kenne. Aber nicht nur das: Es handelt sich dabei sogar um ein anerkanntes Phänomen, welches für unseren Körper und Geist einen nicht zu unterschätzenden Nutzen erfüllt. Es nennt sich Cocooning.
Wenn das Gehirn 'Nope' sagt
Letzte Woche Montag war es mal wieder so weit: Allen Vorzeichen zum Trotz – der Montag hat sich bei mir in den vergangenen Monaten zum Tag mit dem höchsten Energielevel der Woche und dem besten Groove entwickelt – war auf einmal die Luft raus. Schon direkt nach dem Aufwachen war mir klar: Das wird heute alles nichts! Alle so mühsam angeeigneten Routinen: Lesen, Sport machen, Meditieren, Journaling, gesund kochen: alles dahin. Viel zu anstrengend. Ich hatte einfach nur Bock auf sozialen Rückzug. Irgendwas, ohne viel zu kommunizieren, ohne viel Input. Es folgten drei Nachmittage, gefüllt mit Binge-Watching, Zocken und ausufernder Snackerei. Am Donnerstagmorgen dann war es so, als wäre es nie geschehen. Energie wieder auf Höchstform, Motivation bis in den kleinen Zehennagel und beste Laune, die Welt zu entdecken.
Mich noch über mich selbst und diese merkwürdige Phase wundernd, tippte ich also einen kleinen Rechercheauftrag in die KI meines Vertrauens, ob es denn irgendwelche bekannten Bezeichnungen oder wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesen von mir live erlebten Phänomen gibt. Und tatsächlich:
Cocooning ist wahrscheinlich der treffendste Begriff. Dieser wurde in den 1980er Jahren von der Trendforscherin Faith Popcorn geprägt und beschreibt das bewusste, temporäre Zurückziehen in die eigenen vier Wände – wie eine Raupe, die sich verpuppt.
Was also ist das für ein trendig klingender Begriff, was genau beschreibt dieses Phänomen und ist es vielleicht etwas, was sich lohnt, für kommende Feierabende auf dem Schirm zu haben?
Faith Popcorn und die Erfindung des Cocooning
Geprägt wurde dieser Begriff bereits in den frühen 80er Jahren von der Trendforscherin Faith Popcorn (fantastischer Name!). Sie erkannte schon damals einen sich abzeichnenden gesellschaftlichen Wandel. Waren die 70er noch geprägt von wild ausgelebtem Gemeinschaftsgefühl, so zogen sich in den 80ern immer mehr Menschen zurück. In ihrem 1991 erschienenen Bestseller „The Popcorn Report“ (fantastischer Titel!!!) definierte sie dann Cocooning als „den Impuls, nach innen zu gehen, wenn es draußen zu hart und beängstigend wird. Eine Sicherheitsschale, um sich zu ziehen, um nicht einer gemeinen, unvorhersehbaren Welt ausgeliefert zu sein.“1
Wie genau ein solcher Rückzug individuell aussieht und wovor sich genau zurückgezogen wird, kann stark variieren. Auch gibt es je nach Kulturkreis damit verknüpfte Begriffe und Konzepte: Nesting, Hygge und vielleicht auch ein wenig Ikigai. Relevant beim Cocooning ist, das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit, Komfort und Kontrolle zu befriedigen.
Eisbrecher
Fragen, die man selten stellt, deren Antworten aber spannend, witzig oder tief blicken lassen. Sie öffnen Türen zu Seiten, die du an anderen bisher nicht kennst. Beantworte sie erst selbst, dann stell sie einem deiner Lieblingsmenschen.
"Welcher Gegenstand verwandelt jeden Ort in deine persönliche Komfortzone?"
Kuscheldecke aus Kindertagen? Die eine Tasse, aus der Tee einfach besser schmeckt? Kopfkissen mit der perfekten Delle? Erzähl mir von dem Ding, ohne das dein Rückzug einfach nicht funktioniert – und warum es dich so sicher fühlen lässt.
Directed Attention Fatigue: Warum dein Kopf überlastet
Sicherheit und Kontrolle fühlen sich gut an. Darüber hinaus haben in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl an Forschungsergebnissen spannende Erkenntnisse darüber geliefert, inwiefern bewusste Phasen von sozialem Rückzug auf körperliche und geistige Regeneration wirken.
Unser Gehirn ist täglich einer Vielzahl von Reizen ausgesetzt. Tendenz, besonders in Bezug auf deren Taktung: weiterhin ansteigend. Unsere Aufmerksamkeit dabei gezielt auf die für uns relevanten Dinge zu richten, kostet viel Energie. Energie, die nicht endlos verfügbar ist. Aufgaben, die hohe Konzentration erfordern, verbrauchen diese ebenso wie das schnelle und wiederholte Wechseln zwischen Aufgaben und Reizen. Zu oft und zu lange hoch konzentriert seine Aufmerksamkeit zu binden, führt dazu, dass unser neurales Hemmsystem hart arbeiten muss und irgendwann ermüdet. Es wird dann von Directed Attention Fatigue gesprochen2. Das, ebenso wie das wahrlose und ungehemmte Einprasseln von Input, erzeugt Stress.
Und wie wir ja alle wissen: Stress = nicht gut, ungesund, gilt es zu vermeiden! Deshalb tut unser Körper auch einiges, um die Selbstheilungskräfte zu aktivieren und wieder Gleichgewicht hineinzubringen.
Eine dieser Strategien ist der geordnete Rückzug von all diesen Reizen, um sich zu regenerieren. Beim Cocooning werden komplexe neurobiologische Prozesse aktiviert, die zur Stressbewältigung beitragen und das autonome Nervensystem regulieren. In sicheren Umgebungen beruhigt sich die Amygdala und das parasympathische Nervensystem kann „übernehmen“ und Entspannung fördern3.
In diesen Phasen normalisiert sich auch der Cortisol-Spiegel, die Stressresilienz kann gestärkt werden und es kann zu einer verbesserten Dopamin-Belohnungsverarbeitung kommen4.
Default Mode Network: Das Gehirn im Leerlauf-Modus
In bewussten Rückzugs-Phasen, in denen weniger oder keine fordernden Informationen auf uns einprasseln, wird auch verstärkt in das “Default Mode Network” (DMN) umgeschaltet, der Ruhemodus unseres Gehirns. Es ist eine Gruppe von Gehirnregionen, die beim Nichtstun aktiv werden, z.B. auch schon beim Duschen, Spazierengehen oder kurz vor dem Wegnicken5. Dieser Modus ist mitverantwortlich für Selbstreflexion, autobiografisches Gedächtnis und kreative Prozesse6. Im Hintergrund wird im DMN oft an Aufgaben und Problemen weitergeforscht und getüftelt. Deshalb kommen einem unter der Dusche, beim Joggen oder Bügeln die besten Ideen oder Lösungen zu vormals verzwickten Problemen.
Außerdem legen Forschungsergebnisse nahe, dass regelmäßige Rückzugsphasen multiple neuroplastische Mechanismen fördern, die das Gedächtnis stärken und “Entspannungs-Schaltkreise” stärkt7.
Cocooning in der digitalen Ära: Chancen und Herausforderungen
Aber Achtung: Rückzug ist nicht gleich Rückzug. Und davon auszugehen, sich nur oft genug allein aufs Sofa zu fläzen und im stillen Kämmerlein ”The Last Of Us“ zu schauen, wäre gleichzusetzen mit der eben beschriebenen Regeneration, geht aber leider an der Sache vorbei. Denn auch wenn dies ein bewusstes Vermeiden von gewissen externen Reizen ist, so tauscht man sie vieo zu oft nur mit anderen, fordernden Reizen aus.
Wie schon in vorherigen Artikeln beschrieben (z.B. hier oder hier) gibt es ja in der digitalen Welt genug Trigger, die uns erst mal nichts Gutes wollen. Darum sollten Phasen des bewussten Rückzugs auch immer einhergehen mit der Reduzierung von Stimulationen (außer vielleicht diesen gewissen entspannenden Stimulationen :). Es geht nicht um die alleinige Tatsache des Rückzugs, sondern um die Qualität!
Netflix vs. Natur: Qualität macht den Unterschied
Die Klassiker wie Buch lesen, Meditation oder in die Natur gehen stehen hier natürlich ganz oben auf der Liste. Wie sollte es auch sonst sein? Die Attention Restoration Theory betont in diesem Zusammenhang Naturszenarien als besonders hilfreiche restaurative Stimuli. Schon der Anblick von Wolken oder Blättern habe die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu fesseln und dabei gleichsam erholsam zu wirken.8
Aber Netflix und Co. sind nicht zwingend pauschal zu verurteilen. Auch hier kommt es auf die Qualität und die bewusste Entscheidung an. Gezielte Filmauswahl, besser Naturdoku als Action-Thriller, feste gesetzte zeitliche Grenzen in gemütlicher Atmosphäre. Am besten in guter Gesellschaft, übrigens Social Cocooning genannt.
Potenzielle Risiken und Einsamkeit
Aber wie bei so vielen ist nicht alles, was glänzt (Social Media) Gold. Denn so regenerativ diese bewussten Phasen des Rückzugs auch sein können, desto größer ist auch die Gefahr, wenn daraus problematische soziale Isolation wird. Chronische Einsamkeit kann sich auf die Sterblichkeit ebenso drastisch auswirken wie das Äquivalent von 15 gerauchten Zigaretten täglich9 . Wow!
Während die gesunde Form von Einsamkeit freiwillig, zeitlich begrenzt ist und zu Energie und Erfrischung führt, so ist problematischer Rückzug geprägt von Unfreiwilligkeit, der zu noch mehr Erschöpfung und negativen Emotionen bis zu Depressionen führen kann. Und dieses Problem ist real.
20 Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen leben allein. Ein Wert, der seit Jahren weiter zunimmt. Zwar hat das Einsamkeitsempfinden, das zu Pandemiezeiten auf einem Höhepunkt lag, wieder leicht abgenommen, so fühlt sich dennoch jede/r 10. in Deutschland häufig einsam. Das hat negative Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit. Und zudem haben „Personen mit erhöhter Einsamkeitsbelastung ein niedrigeres Vertrauen in politische Institutionen“10. Allesamt nicht gut!
Cocooning-Hacks: Reset mit System
Wie bei so vielem ist es also auch hier wichtig, die gewisse Balance zu finden zwischen Rückzug und sozialen Verbindungen. Wenn ich mir meine letzten Murmeltiertage so anschaue, so gibt es da sicherlich die ein oder andere Aktivität, die ich jetzt nicht per se als regenerativ, erholend und kräfte-stärkend einordnen würde. Aber dennoch habe ich nach dieser Phase ein Gefühl von neu aufgeladenen Batterien verspürt.
Strukturierte Rückzugsphasen können das eigene System neukalibrieren. Wie ein Reset-Knopf dabei helfen kann, dem Gehirn wieder sensibel für die eigenen Stresshormone zu werden. Die Forschung zeigt, dass adaptive Rückzugsphasen eine fundamentale biologische Notwendigkeit repräsentieren, die bei angemessener Unterstützung signifikant zu psychischer Resilienz und physischer Gesundheit beiträgt.
Andersmacher
Eine kleine Übung, um Gewohnheiten zu durchbrechen und Alltägliches neu zu entdecken. Denn manchmal braucht es nur einen anderen Blickwinkel, um wieder neugierig zu werden.
Ersetze ein digitales durch ein analoges Cocooning-Ritual.
Statt Netflix: Buch. Statt Social Media: Tagebuch. Statt Podcast: Schallplatte oder altes Tape. Was verändert sich in der Qualität deines Rückzugs?
Ich für meinen Teil nehme für die Zukunft mit, beim nächsten Anblick eines Murmeltiers ein wenig bewusster auf die inneren Signale zu achten, die meinen sozialen Rückzug erforderlich zu machen scheinen. Außerdem möchte ich weiter ausprobieren, welche persönlichen Strategien des Rückzugs meinen Akku nachhaltig wieder füllen, ohne direkt auch hier in ein Gefühl von Arbeit und Selbstoptimierung zu verfallen.
Abschließend habe ich für dich hier noch ein kleines Fact-Sheet mit oft zitierten Cocooning-Tipps zusammengetragen, die dir vielleicht dabei helfen können, deiner nächsten bewussten Rückzugs-Phase ein wenig Feinschliff zu verleihen.
In diesem Sinne: fröhlichen, bewussten Rückzug und schönen Feierabend!
Claas
"The Popcorn Report: Faith Popcorn on the Future of Your Company, Your World, Your Life", Popcorn, Faith (1991)
The restorative benefits of nature: Toward an integrative framework" (Journal of Environmental Psychology, 15. (1995)
Effect of Parasympathetic Stimulation on Brain Activity During Appraisal of Fearful Expressions, Elena Makovac et al. (2015)
Increased dopamine tone during meditation-induced change of consciousness, Troels W Kjaer et al (2002)
A default mode of brain function, Marcus E. Raichle et al. (2023)
Default mode network spatio-temporal electrophysiological signature and causal role in creativity. E. Bartoli et al. (2023)
Neurobiological Changes Induced by Mindfulness and Meditation: A Systematic Review, Andrea Calderone et al (2024)
Attention Restoration Theory II: a systematic review to clarify attention processes affected by exposure to natural environments. (2018)
Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-analytic Review, Julianne Holt-Lunstad et al (2010)
Erwischt ;)