Fokus statt Flut: Ein Toolkit für achtsame Aufmerksamkeit
Praxistipps für dein digitales Leben – vom Bändigen von Reizen, Schärfen des eigenen Fokus bis zur bewussten Kontrolle.
Aufmerksamkeit will gepflegt werden. Nach der Radiosendung und dem Deep Dive folgt heute der praktische Teil: Ideen, Techniken und Übungen für mehr Klarheit im digitalen Dschungel.
I look down at my phone and wonder if it isn’t its own kind of sensory-deprivation chamber. That tiny, glowing world of metrics cannot compare to this one, which speaks to me instead in breezes, light and shadow, and the unruly, indescribable detail of the real.
Jenny Odell
Aufmerksamkeit: Die Währung der digitalen Welt
Aufmerksamkeit ist die Währung unserer immer digitaler werdenden Welt. Ob Werbung, Streaming-Playlisten oder der nächste Social-Media-Post – Algorithmen entscheiden zunehmend, was wir sehen, hören oder lesen. Das Ergebnis? Ein Leben in einem ständigen Strom von Reizen, der uns immer stärker herausfordert: Fokussiert zu bleiben, wirklich aufmerksam zu sein und am Ende des Tages abzuschalten.
Eisbrecher: Erinnerst du dich?
Vorschläge für witzige, spannende, tiefgründige Fragen, die Türöffner für erhellende Gespräche sein können.
➤ Schließ mal kurz die Augen:
Was war der letzte digitale Inhalt, der dich wirklich berührt hat? Ein Video, ein Artikel, ein Song?
Und jetzt ehrlich: Wie viele Inhalte hast du seitdem noch konsumiert – ohne dass sie auch nur ansatzweise hängen geblieben sind?
Genau darum geht’s hier: Wie viel rauscht an uns vorbei, wie viel bleibt wirklich? Vielleicht ein guter Aufhänger für ein Gespräch mit Freund:innen. „Ich hab da diesen Artikel gelesen...“ Oder auch: „Kennst du die Sendung ‘The Art of Making Feierabend’? Da ging’s genau darum.“ Aber nun zum Thema: 😉
Rückblick: Was wir über Aufmerksamkeit wissen
Im letzten Newsletter habe ich erklärt, wie unsere Aufmerksamkeit funktioniert – mit einem Blick auf die drei Aufmerksamkeitssysteme und die psychologischen Tricks digitaler Plattformen, die uns oft in den Bann ziehen. Doch die gute Nachricht: Wir sind nicht machtlos.
Ja, es mag manchmal so wirken, als ob „das Menschliche“ in einem Ozean aus Bits und Bytes ertrinkt. Aber das ist kein Grund, kampflos den Kopf in den digitalen Sand zu stecken. Denn am Ende sind wir es, die den Lichtkegel unserer Aufmerksamkeit steuern können.
It’s your mindset, stupid!
Bevor wir in konkrete Techniken eintauchen, ein Gedanke, der mir wichtig ist: Was wirklich zählt, ist dein Mindset.
Auch ich verfalle oft in ein Muster: Ich ärgere mich über mich selbst. „Schon wieder viel zu lang gescrollt, obwohl ich es besser weiß!“ Aber weißt du was? Das ist genau der falsche Ansatz.
Denn jedes Mal, wenn du es bemerkst – das ist der eigentliche Moment der Bewusstheit. Das ist der Moment, in dem du vom passiven Konsum ins aktive Nachdenken wechselst. Und das ist kein Rückschlag – das ist ein Sieg.
Statt dich selbst zu kritisieren, wenn du abgelenkt warst, feiere den Moment, in dem du es bemerkt hast. Du trainierst deine Aufmerksamkeit genau in diesem Moment.
Wissenschaftlich betrachtet nennt man das Selbstwirksamkeit – der Glaube, dass du durch dein Verhalten positive Veränderungen erreichen kannst. Studien zeigen: Wer überzeugt ist, dass er etwas verändern kann, hat eine viel höhere Chance, es auch zu schaffen.
Wenn du also davon ausgehst, dass du deinen Feierabend bewusst gestalten kannst, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es dir gelingt. Das ist kein Motivationsspruch, sondern Neuropsychologie.
In der Kognitionspsychologie beschreibt das Modell von Posner drei Netzwerke, die unsere Aufmerksamkeit koordinieren. Und genau anhand dieses Modells folgen nun ein paar praxistaugliche Tipps. Doch keine Angst: es geht nicht darum, dein digitales Leben komplett aufzugeben, sondern wie du es verbessern und noch wertvoller machen kannst.
Prinzip 1: Reize steuern - das Alerting-System in seine Schranken weisen
Erinnerst du dich? Dein Alerting-System ist wie ein Frühwarnradar: Es meldet sich, wenn etwas plötzlich deine Aufmerksamkeit will. Doch in der digitalen Welt ist es im Dauerbetrieb – und genau das müssen wir ändern.
Zu Beginn steht Folgendes: Reflektiere deine eigene Mediennutzung. Beobachte einfach mal eine Woche lang, wie dein digitales Leben aussieht. Sieh dir deine App-Nutzungszeiten auf dem Smartphone an, mach über die Woche verteilt ein paar Notizen, wann und wie lang du abgelenkt worden bist, du passiv anstatt aktiv konsumiert hast.
Und dann beginne mit dem digitalen Ausmisten. Nimm dir dafür einmal eine Stunde Zeit:
Homescreen-Detox: Apps verschwinden vom Startbildschirm – du entscheidest, was sichtbar bleibt. Alles andere wird nur etwas schwieriger zu erreichen - nämlich wenn du es bewusst willst.
Benachrichtigungs-Check: Schalte alle Push-Nachrichten aus, die du nicht wirklich benötigst. Denn bedenke: jede Ablenkung einer Push-Nachricht über “ Wolfgang gefällt dein Post” kann dich 20 Minuten tiefe Konzentration kosten!
Badge-Befreiung: Entferne sogenannte Appsymbolindikatoren, diese roten Punkte, die anzeigen, dass da eine Nachricht auf dich wartet.
Zeitlimits festlegen: Definiere klare Zeitlimits für Apps, die dich besonders ablenken oder schränke die Nutzung von gewissen Apps zu gewissen Uhrzeiten ein.
Fokus Mode “On”: Die meisten Smartphones haben “Zen- oder Fokus-Modes” in denen man auf Knopfdruck eine Vielzahl an Apps und Benachrichtigungen ausschalten kann. Einmal einrichten, und dein Fokus hat mehr Luft zum Atmen.
DER ANDERSMACHER: Dark-Pattern-Safari
In dieser Sektion geht es um kleine Übungen, Spiele und Gedanken, die den Alltag etwas spannender machen. Es geht darum, auf oft begangenen Wegen Neues zu entdecken.
➤ Wie, wo und wann wird deine Aufmerksamkeit manipuliert?
Mach ein Spiel daraus: Zähle, wie viele Dark Patterns dir an einem Tag begegnen!
Halte bewusst Ausschau nach persuasiven Designs. Wo gibt es überall Endlos-Feeds, wo kommt automatisch das nächste Video, der nächste Track? Zur Erinnerung, hier findest du noch einmal eine umfassende Auflistung über diese kleinen, fiesen Designtricks.
Prinzip 2: Fokus üben - das Orienting-System stärken
Kleiner Reminder: Es richtet deine Aufmerksamkeit aus – räumlich, visuell oder auditiv. Denke an die Taschenlampe im Wald. Es kann endogen gesteuert oder auch exogen getriggert werden.
Der Fokus beginnt mit einer Frage
Frag dich regelmäßig: „Will ich das wirklich gerade beachten?“ – Dieser kurze Check hilft dir, unbewusste Ablenkungen in bewusste Entscheidungen zu verwandeln. Denn Fokus ist keine Gabe – er ist eine Fähigkeit, die du trainieren kannst.
Und diesen kannst du auf verschiedene Arten trainieren. Einige Möglichkeiten davon sind:
Die 20-20-20-Regel: besonders während der “Screen-Time” lohnt es sich bewusst alle 20 Minuten für 20 Sekunden lang seinen Blick auf etwas zu richten, was 20 Fuß (ca. 6 Meter) entfernt ist (20-20-6 klingt einfach nicht so gut!). Das ist nicht nur gut für deine Augen, sondern hilft auch deinem Gehirn, sich neu auszurichten.
Single-Tasking statt Multitasking: Starte jeden Tag mit einer „Fokus-Liste“: Was sind die 5 wichtigsten Dinge, die du heute erreichen willst? Markiere davon 3 als “kritische Erfolgsfaktoren“ und reserviere dir jeweils 20-Minuten Blöcke am Tag, um daran zu arbeiten. Frage dich zusätzlich: Warum willst du diese Dinge erreichen? Vermeide das Springen zwischen verschiedenen Dingen. Denke an die “Costs of switching”!
Brain-Breaks: Nutze die Pomodoro-Technik (25 Minuten konzentriert ohne Ablenkung arbeiten, dann 5 Minuten Pause), um bewusste und aktive Pausen in deine Routinen einzubauen. Nutze die 5 Minuten, um dich richtig zu belohnen, aber am besten fernab eines Bildschirms, besser mit kurzer Bewegung an frischer Luft. Für einen tieferen Einstieg in das Thema des konzentrierten Arbeitens lohnt sich ein Blick in “Deep Work” von Cal Newport.
Gezieltes Training der selektiven Aufmerksamkeit: wenn du aufmerksam gewesen bist, ist dir mit Sicherheit aufgefallen, dass die kleinen “Andersmacher”-Übungen in genau diese Kerbe schlagen. Versuche im Alltag durch kleine Aufmerksamkeitsübungen, deinen Fokus bewusst auf Dinge zu richten. Für Unkreative habe ich einen KI-Prompt gebaut, der Abhilfe schafft. Ansonsten kann ich dir auch die Gehirnjogging-App “Neuronation” wärmstens ans Herzlegen.
Digital-Management: Wenn möglich, deaktiviere algorithmische Empfehlungen wie z.B. Auto-Play-Funktionen. Erstelle lieber mal wieder eine eigene Playlist und teile sie mit Freunden!
Geführte Achtsamkeit: Und wie es der Zufall so will, sind auch Mindfulness-Übungen eine sinnvolle Ergänzung, um den eigenen Fokus zu schulen und zu stärken. Dass Achtsamkeit eine sinnvolle Ergänzung für den Feierabend sein kann, darüber habe ich in Episode #04 schon gesprochen. Hier kann ich das Healthy Minds Programm als kostenlosen Einstieg empfehlen.
Prinzip 3: Exekutive Kontrolle trainieren – der innere Fokus-Coach
Dein exekutives Kontrollsystem ist der Dirigent deines Aufmerksamkeitsorchesters. Es hilft dir, Ablenkungen auszublenden, Prioritäten zu setzen und selbst dann konzentriert zu bleiben, wenn es schwierig wird. Doch auch dieses System ist begrenzt – und braucht Training und Pflege, um stark zu bleiben.
Auch hier gibt es wieder unzählige Möglichkeiten, dieses System zu stärken:
Reflexion und End-of-Day-Reviews: Zu “journaln” (zu Deutsch: Tagebuch schreiben) oder am Ende des Tages in einer 5-Minuten Reflexion positive Dinge oder Ablenkungen zu notieren kann dabei helfen, seine Tage (und Feierabende!) aktiver und bewusster zu gestalten.
Rituale gegen Doom-Scrolling: Bevor du dein Handy entsperrst, frage dich: Warum will ich das, was will ich gleich tun und wie lange? Stelle bewusst einen Timer, um dir bewusst eine passive “Auszeit“ im Netz zu gönnen. Du kannst auch nach jeder Session eine kleine “Aktiv-Einheit“ einlegen und dich z.B. kurz bewusst dehnen, bevor du mit etwas anderem weitermachst.
Bewusster Aus- & Umstieg: Wenn du von einer Sache zur nächsten wechselst, halte kurz inne: Was hast du gerade erledigt, was steht als Nächstes an? Mach eine Routine daraus! Ebenso ist natürlich jede bewusste Entscheidung für eine “Handyfreie Stunde“, ein Spaziergang in der Natur oder ein Date mit Freunden eine Wohltat für deine Aufmerksamkeit.
Gezielte Provokation kognitiver Dissonanzen: die Neuronation-App setzt auch hier an, z.B. durch Farb-Wort-Interferenz-Spiele oder adaptives Regelwechseltraining. 5 Minuten am Tag reichen vollkommen aus. Und macht sogar mehr Spaß als Angrybirds!
Schlaf & Bewegung: und selbstverständlich bilden Schlaf und regelmäßige Bewegung die Grundlagen für klare Entscheidungen, Willenskraft. Sie bauen Stress ab und stärken die exekutive Kontrolle.
Sei ein “Connaisseur": Wähle gezielt aus, anstatt passiv zu surfen. Folge deiner Neugier (Reminder an das letzte Toolkit!) und verbringe möglichst viel Zeit mit vertieftem Lesen, Hören oder Sehen. Qualität ist wertvoller als Quantität.
Und was ist mit “Digital Detox“?
Wunderst du dich gerade, dass bei meinem durchaus politisch-kämpferischen Einstieg ins Thema jetzt nicht die Aufforderung zu Digital Detox, dem kompletten, konsequenten Entsagen des digitalen Lebens von mir propagiert wird?
Das hat nichts damit zu tun, dass ich es nicht für durchaus sinnvoll erachte, mal auch einen längeren Zeitraum das digitale Leben außen vorzulassen. Langfristig würde ich mich aber der Argumentation von Jenny Odell in ihrem Buch “How to do Nothing” anschließen. Der Impuls bei erkannter Überforderung, Reißaus zu nehmen und sich komplett abzuschotten, mag plausibel klingen, aber nur in den seltensten Fällen wahrhaftig gelingen. Wir leben nun mal in einem Zeitalter, in dem wir mit der Tyrannei von Echtzeitdaten und Algorithmen leben, und unseren Platz finden und selbst aktiv bestimmen müssen.
When the pattern of your attention has changed, you render your reality differently. You begin to move and act in a different kind of world.
Jenny Odell
Logischer ist es also, so bewusst wie möglich diesen Prozess selbst zu gestalten und Zustände von “Polyconsciousness” nicht nur zu akzeptieren, sondern mit kritischem Rebellentum zu begleiten. So gesehen sind es die kleinen, persönlichen Akte des Selbstschutzes, jene welche, die selbstbestimmt dazu beitragen, einen erfüllten und erquickenden Feierabend zu genießen.
Und in Bezug auf das von Kyle Chayka beschriebene “Abflachen der Kultur durch Algorithmen” bleibt in diesem Kontext festzuhalten:
Digitale Vielfalt ist nichts Schlechtes per se – solange wir sie aktiv erleben, anstatt uns passiv davon berieseln zu lassen. Kultur war nie ein „One-to-Many“-Broadcast-System, sondern immer ein „Peer-to-Peer-Netzwerk“. Doch genau das droht zu verschwinden, wenn wir die Auswahl allein dem Algorithmus überlassen.
Der Schlüssel liegt darin, digitaler „Connaisseur“ zu werden – ein Kurator deiner eigenen digitalen Erlebnisse.
Folge bewusst deinen Interessen.
Suche gezielt nach neuen Perspektiven.
Unterstütze Künstler:innen, deren Werke dich berühren.
Teile spannende Radioletter mit deinen Lieblingsmenschen und sprich Empfehlungen dafür aus. ;-)
Indem wir weiterhin bewusst den Wert eines Songs, eines Bildes, eines schon wieder viel zu ausufernden Newsletters wertschätzen und fördern, können wir dazu beitragen, dass unser Leben und unsere Feierabende weiterhin so farbenfroh sind, wie sie sein sollten.
PS: Und seien wir doch mal ehrlich: technischen Fortschritt für unsere Misere verantwortlich zu machen ist ein alter Schuh, gehört vielleicht fast schon zur Natur des Menschen. Aber wenn wir uns ehrlich machen, dann gehört zu einem wankenden Aufmerksamkeitssystem auch immer die unbequeme Wahrheit dazu, dass daraus folgende „Ablenkung“ auch immer eine Flucht vor unliebsamer Realität ist. Wie wir mit den Auslösern davon umgehen, entscheidet letztendlich darüber, ob wir uns gesundheitsfördernden Maßnahmen oder selbstzerstörerischen Ablenkungen widmen.
In diesem Sinne “Glück auf!“, nur Mut und ich wünsche wie immer,
einen schönen Feierabend!
Claas